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Was haben Telefontarife der Telekom mit Napoleon III und dem österreichischen Kaiser zu tun? Australien mit der Herstellung von Pech? Die Pariser Fashion Week mit Hemingway? Synästhetische Gedichte mit Rechtschreibfehlern? Die Arabische Liga mit Burberry? Und was hat das alles mit dem Autor dieses Buchs zu tun? Wissen die zaubernden Libellen, denen die Leser gleich zu Beginn begegnen, die Antworten auf all diese Fragen? Das wäre zu einfach. Die Leser müssen sich schon selbst auf die Suche begeben in dieser literarischen Huldigung an das Leben in all seinen Facetten. Hierbei jedoch werden sie auf mindestens genauso viele Fragen wie Antworten stoßen. Und das ist auch gut so.
In diesem Buch entpuppt sich Ferdinand von Schirach als ein Meister der kleinen Erzählform. In 48 kurzen bis sehr kurzen Kapiteln erzählt er von nichts Geringerem als dem Leben, dem Alltag der Menschen, Kunst und Kultur. Er berichtet von Erinnerungen an Begebenheiten seiner Kindheit. Auch von dem schwierigen Erbe, das der Großvater seiner Familie aufgebürdet hat. Er beschreibt Orte, die ihn berühren und nicht mehr loslassen. Er entreißt größere und kleinere Ereignisse der Zeitgeschichte dem Vergessen. Der Autor erzählt von der Tragik der Zeitabläufe. Von einem zum Tode Verurteilten, der zwölf Tage vor Inkrafttreten des Grundgesetzes durch das Fallbeil hingerichtet wurde. Zwölf Tage, die den Unterschied bedeuten zwischen Todesstrafe und Lebenslänglich. Von Tod und Leben. Als Jurist und Erzähler macht er das Wesen des Rechts emotional erfassbar, ohne es durch Emotionen zu korrumpieren. Er zitiert Otto Schily, der in den 1970er-Jahren Wahlverteidiger von Gudrun Ensslin in den Stammheimer Prozessen gegen Mitglieder der Roten Armee Fraktion war. Schily hatte an einem der Verhandlungstage gesagt, dass sie, die Verteidiger, gegenüber der Macht das Argument des Rechts ins Feld führen. Als Leser versteht man bei diesen Worten sofort das Wesen unseres Rechtsstaates. Von Schirach schreibt, dies sei das Leitmotiv im Leben des Otto Schily. Die Rezensentin glaubt, dass dies auch der Motor im Denken und Handeln des Ferdinand von Schirach ist.
In der ihm eigenen Mischung aus Klarheit und Melancholie sind seine zu Papier gebrachten Gedanken strukturiert und evident. In anderen Kapiteln mäandern sie und mit ihnen die Sprache von Assoziation zu Assoziation. Dies führt zu einer unglaublichen Sogwirkung seiner Erzählkunst; ebenso wie der zarte Humor, der gelegentlich aufblitzt. Zum Beispiel, wenn er wie beiläufig erwähnt, dass ein Schild im Morbider Gericht Rauchern den dortigen Galgenhof als Ort zuweist, an dem sie ihrem Laster frönen können.
Für den Zigarettenliebhaber von Schirach ist das nichts, was er unkommentiert lassen könnte. In seinen kleinen, großen Geschichten macht es keinen Unterschied, ob es sich bei seinen Protagonisten um eine alte Dame handelt, die ihr Vermächtnis regelt, um die Prostituierte, neben der er als Student ein Zimmer bewohnte. Oder ob es sich in seinen Erzählungen um Personen der jüngeren oder älteren Geschichte handelt. Es ist egal, ob er vom großen ganzen oder ganz kleinen Begebenheiten berichtet. Jeder Geschichte widmet er die gleiche, fast schon zärtliche Aufmerksamkeit und Behutsamkeit. Über einen Beitrag von Otto Schily bei der Bundestagsdebatte zur Münchner Wehrmachtausstellung schreibt der Autor: "Ich weiß nicht, wann mich eine Rede das letzte Mal so berührt hat." Die Rezensentin nimmt diesen Satz auf und schließt mit dem abgewandelten Zitat: "Ich weiß nicht, wann mich ein Buch das letzte Mal so berührt hat."
Die gebundene Ausgabe ist zum Preis von 20 € bei Luchterhand erhältlich.
EineLeseprobe wird auf der Verlagsseite angeboten.