Häufig beschweren sich Menschen heute über eine Zunahme von Egoismus und Rücksichtslosigkeit, über Blendertum und überbordende Selbstgefälligkeit in ihrem Umfeld. Rasch und mittlerweile beinahe inflationär fällt in diesem Kontext der Begriff "Narzissmus". Doch ist eine Person mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, ein Rechthaber, eine chronische Tatsachenverdreherin bereits krankhaft narzisstisch?
Im hier besprochenen Buch befasst sich die französische Psychoanalytikerin und Familientherapeutin Marie-France Hirigoyen mit dem Phänomen Narzissmus, seinen Ausprägungen, seinen Wurzeln und den Umständen, die ein Anwachsen des Anteils an Betroffenen in unserer Gesellschaft fördern.

Den Anfang macht die Auseinandersetzung mit einem der besten Beispiele zum Thema, Donald Trump, den die Autorin so gründlich analysiert, wie das ohne direkten Kontakt möglich erscheint. Im Anschluss beleuchtet Hirigoyen die Entwicklung des Narzissmusbegriffs, die verschiedenen Abstufungen und Typen innerhalb der Persönlichkeitsstörung sowie deren Entstehung im familiären Bereich und ihre Begünstigung durch die heutige intensive Erfolgsorientierung.
Zwei Kapitel befassen sich mit den Auswirkungen des Narzissmus: im Alltag und in der Gesellschaft. Kurz erwähnt die Autorin zudem Möglichkeiten, ihn zu überwinden.

Donald Trumps Person und Handeln bieten natürlich perfektes Anschauungsmaterial zur Erläuterung einer massiven narzisstischen Persönlichkeitsstörung, und die Autorin geht sehr gründlich auf ihn ein. Einige weitere Größen wie Berlusconi, Putin und Macron werden ebenfalls skizziert. In diesem Zusammenhang stellt Hirigoyen auch die heute und früher verbindlichen "Checklisten" für die Diagnose der Störung vor. Interessant dürften für viele Leser die verschiedenen Typen sein, die sich hinter der Diagnose verbergen können: grandiose (größenwahnsinnige) sowie verletzliche Narzissten und die narzisstischen Perversen (der in Frankreich bevorzugte Begriff) beziehungsweise Psychopathen. Hier erfahren auch Menschen, die sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt haben, einige interessante Zusammenhänge, etwa, dass die Verletzlichen eine erhöhte Selbstmordneigung zeigen – die man ohne die Lektüre nicht unbedingt mit Narzissmus in Verbindung bringen würde.

Nicht frei von Wiederholungen untersucht die Autorin die westlichen Gesellschaften auf ihr Potenzial zur Förderung von Narzissmus. Sie vermag aufzuzeigen, dass hier durchaus ein Zusammenhang besteht: sowohl von den Familien selbst ausgehend, in denen sich vielfach alles um die behüteten Kinder dreht, als auch von einer Gesellschaft, in der Erfolg (tatsächlicher oder durch "Blender" vorgetäuschter) einen extrem hohen Stellenwert besitzt. Ebenso weist Hirigoyen auf die Idealisierung des Selbst in sozialen Netzwerken, Videospielen, Reality-TV und dergleichen hin – ihr zufolge ein weiterer Katalysator für die Entwicklung von Narzissmus.
Dass und wie die Arbeitswelt, Familien und ganze Gesellschaften und Staatensysteme unter dem Joch von pathologischen Narzissten beschädigt und dysfunktional werden, vermag die Autorin schlüssig und anhand von Beispielen gut darzulegen.

Was freilich fast komplett fehlt, sind die im zweiten Teil des Titels in Aussicht gestellten Möglichkeiten der Gegenwehr. Weder in Bezug auf den Einzelnen noch hinsichtlich der Gesellschaft finden sich hier nützliche Lösungsansätze. Die Autorin hofft auf die junge Generation, die sich ihr zufolge à la Greta Thunberg gegen die eingefahrene Gesellschaftsordnung wehren wird. Freilich hat sie zuvor genau dieser Generation aufgrund der erwähnten aktuellen familiären und gesellschaftlichen Strukturen und Mechanismen ein hohes narzisstisches Potenzial attestiert. Das ist nicht stimmig. Und so bleibt trotz der gut dargelegten Informationen zum eigentlichen Thema ein schaler Beigeschmack.

Eine Leseprobe wird auf der Verlagsseite angeboten.