Wenn es eine Stadt verdient hat, im Rahmen eines Horror-Rollenspiels einen eigenen Quellenband gewidmet zu bekommen, so ist dies London. Nur wenige Städte sind so geschichtsträchtig, legendenumwoben und geheimnisvoll wie die Themse-Metropole, Hauptstadt des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland. So war es nur eine Frage der Zeit, bis Pegasus einen London-Band auf den Markt bringen würde.
Das vorliegende "London - Im Nebel der Themse" ist in zweierlei Hinsicht ein Novum. Obwohl mit dem "London Guidebook" aus dem Jahr 1996 bereits eine englische Version eines Cthulhu-Quellenbandes über die Stadt existierte, handelt es sich bei diesem Buch um eine komplette Eigenproduktion der deutschen Cthulhu-Redaktion. Auch unter einem anderen Gesichtspunkt betritt "London" Neuland. Erstmals werden sowohl die klassische Epoche der 1920er als auch das Gaslicht-Setting der 1890er ausführlich in einem Band behandelt.

Die Aufmachung entspricht dem gewohnt hohen Standard der Pegasus-Produkte. Der Band besitzt einen stabilen Hardcovereinband, womit er sich sehr schön in die übrigen Cthulhu-Quellenbände im Regal einreiht. Das Lektorat hat gute Arbeit geleistet, die Bebilderung ist dank der Verwendung historischer Fotografien stimmungsvoll. Die Innenseiten des Buchedeckels beziehungsweise die Vorsatzseiten sind mit farbigen, historischen Stadtplänen Londons bedruckt. Aus ästhetischer Sicht keine schlechte Idee, jedoch hätte ich mir zusätzlich noch einen separaten Plan in einer Kartentasche als Handout gewünscht.

Kapitel 1: Zur Einführung enthält eine knappe Zusammenfassung über die Geschichte Londons bis in die 1920er, sowie drei hilfreiche Abschnitte über das politische System, das komplizierte Währungssystem und Hinweise über Ausländer in England. Der geschichtliche Überblick hätte gerne etwas umfangreicher ausfallen dürfen, für eine knappen Gesamteindruck reicht es jedoch allemal.

Kapitel 2: Streifzüge durch London stellt nun die einzelnen Stadtviertel mit ihren Besonderheiten vor. Sehr positiv fallen hier die Grundrisspläne unter anderem des British Museum, Westminster Abbey und des Towers auf, ebenso wie Pläne des U-Bahn-Systems oder der Londoner Verwaltungsbezirke. Am Ende des Stadtrundganges werden schließlich die morbiden und cthuloiden Bereiche der Themse-Metropole vorgestellt. Der Leser erfährt Wissenswertes über Irrenanstalten, Totenbräuche und bekannte Londoner Geistererscheinungen.

Kapitel 3: Leben in London wirft einen ausführlichen Blick auf die Londoner Gesellschaft der 1890er und 1920er. Vom typischen Londoner Akzent, dem Cockney, über das Transportsystem der Züge und U-Bahnen bis hin zum britischen Rechtswesen wird im umfangreichsten Kapitel des Bandes auf alle Bereiche des Lebens eingegangen, die für Investigatoren in London und vor allem deren Spielleiter wichtig sind.

Kapitel 4: Als Spielercharakter in London enthält einige neue Berufe wie den Gentleman oder den Coroner, und spricht noch einmal direkt das Thema der Informationsbeschaffung an, welches ein wesentlicher Bestandteil eines klassischen Cthulhu-Abenteuers ist.

Kapitel 5: Okkultismus und Mythos in London gibt einen kurzen Überblick über die vor allem in den 1890ern sehr beliebten okkultistischen Vereinigungen Londons. Außerdem wird mit der "Sodalitas Nova Matris Tenebricosae" ein neuer Kult um die Verehrung von Shub-Niggurath vorgestellt.

Kapitel 6: Szenarien bietet auf knapp siebzig Seiten zwei Cthulhu-Abenteuer für die Epochen der 1890er und der 1920er.
Jens Peter Kleinau und Heiko Grill greifen in "Nebel der Wahrheit" den Mythos um Jack the Ripper, den wohl legendärsten Serienmörder Londons, auf, und spinnen darum eine neue, cthuloide Verschwörungstheorie um düstere Rituale und den Kampf zweier Geheimorganisationen, in den die Spielercharaktere verwickelt werden. Die Aufarbeitung des Stoffes um Jack the Ripper stellt sich als zweischneidiges Schwert heraus. Einerseits kommt man in dem London-Quellenband zu einem Horrorrollenspiel nicht umhin, die grausamen Mordfälle in Whitechapel im Jahre 1888 aufzugreifen. Es wäre gelogen, wenn man behauptet, nicht mit einem "Jack the Ripper"-Abenteuer gerechnet zu haben. Auf der anderen Seite machen sich dadurch leider auch gewisse Abnutzungserscheinungen an dem Serienmörder-Mythos bemerkbar, sodass man sich die Frage stellt, ob nicht eine unverfänglichere Themenwahl besser gewesen wäre. Vom handwerklichen Gesichtspunkt aus gesehen weiß "Nebel der Wahrheit" jedoch zu überzeugen.
In "Elwoods Kinder", dem zweiten Szenario, thematisiert Wolfgang Schiemichen das Erbe eines alten Mannes, der sich mit alchimistischen Experimenten beschäftigt und dabei ein gefährliches Wesen in unsere Welt gebracht hat. Auch dieses Szenario weiß nicht so recht zu überzeugen, da es teilweise etwas unstrukturiert wirkt und somit noch einiges an Vorbereitungszeit für den Spielleiter erfordert.

Kapitel 7: Anhang enthält schließlich eine Zeitleiste der wichtigsten Ereignisse Londons in den 1890ern und 1920ern, sowie wichtige Londoner Adressen dieser Zeiten, die obligatorische Ausrüstungsliste und ein Straßenverzeichnis für den Stadtplan auf der letzten Seite. Ein Index für den Quellenteil schließt den gesamten Band ab.

Neben dem eigentlichen Fließtext sind noch die schwarz hinterlegten Textkästen zu nennen, die nähere Details zu kleinen Randbemerkungen bieten oder oftmals auch Abenteueraufhänger zu den im Fließtext behandelten Themen liefern.

"London - Im Nebel der Themse" ist eines der vorbildlichsten Quellenbücher für Cthulhu und Rollenspiele im Allgemeinen, die ich bisher gelesen habe. Man erhält umfassende, gut aufbereitete Informationen zu der Weltstadt an der Themse, aber auch die für Cthulhu-Spieler und Spielleiter wesentlichen Bereiche werden nicht vernachlässigt. Nur der etwas schale Geschmack der beiden Szenarien trübt das Gesamtbild. Einen Teil des Platzes hätte man sicher sinnvoller für einen etwas umfangreicheren Geschichtsüberblick verwenden können. Dennoch kann "London - Im Nebel der Themse" vorbehaltlos jedem Spielleiter ans Herz gelegt werden, der seine Gruppe in die Nebelschwaden einer der stimmungsvollsten und geheimnisvollsten Städte Europas schicken möchte. Auch der Preis von EUR 29,95 ist absolut gerechtfertigt.