Als Rezensent müsste man vor üppigen 3,5 Kilogramm Buch eigentlich zurückschrecken - aber bereits beim ersten flüchtigen Durchblättern stellten sich Neugier und Vorfreude ein, und diese wurden bei der Lektüre und beim Betrachten keineswegs enttäuscht.
Die herkömmliche Technik stößt nicht zuletzt aufgrund ihrer weitgehenden Abhängigkeit von begrenzten Ressourcen zunehmend an Grenzen. Da lohnt es sich, das Augenmerk auf Systeme zu richten, die über Jahrmillionen durch eine unerbittliche Auslese ungeeigneter Komponenten oder "Apparate" optimiert wurden, soweit eine Idealkonstruktion überhaupt möglich ist. Bei diesen Systemen handelt es sich um Organismen oder auch Organisationen von Organismen, und sie können uns, das heißt vor allem den Ingenieuren, aber auch Architekten, Managern und in manchem Bereich jedem Einzelnen, zahlreiche Impulse für Neuentwicklungen liefern.
Zum Teil ist das schon geschehen. Nicht umsonst ist der allgegenwärtige Klettverschluss, ohne den viele Kindergartenkinder ihre Schuhe nicht schließen könnten, nach seinem Vorbild benannt, der Frucht der Klette. Flugzeuge können mittels einer Außenhaut aus Haifischhaut-Imitat ihren Kerosinverbrauch senken und folglich wirtschaftlicher betrieben werden. Autohersteller orientieren sich an Meerestieren mit geringem Strömungswiderstand, und natürlich war und ist der Vogelflügel immer wieder Vorbild für Flugzeug-Tragflächen. Blätter der Riesenseerose haben manchen Architekten inspiriert, und die Vielfalt und Schönheit der um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert von Ernst Haeckel dokumentierten Radiolarien- und Kieselalgenskelette trugen entschieden zur Entwicklung des Jugendstils bei.
Längst nicht alles, was möglich und machbar ist, wurde bisher umgesetzt. Dabei kann die Natur mit zahlreichen Verpackungskünstlern aufwarten, die wertvolle Güter, zumeist ihre Gene, optimal zu schützen und zu transportieren wissen, dabei wenig Energieaufwand betreiben und nur komplett natürlich abbaubare "Abfälle" hinterlassen. Manager könnten sich sehr viel von Schwarmtieren oder auch arbeitsteilig organisierten Arten wie den Ameisen abschauen. Und jeder Einzelne sollte sich im Zeitalter der schier grenzenlosen Vernetzung bewusst machen, dass es in Fisch- und Vogelschwärmen kein Leittier und dennoch eine perfekte Koordination gibt. Warum nicht auch beispielsweise beim kritischen Konsumenten, der weiß, was er will?
Die Bionik, eine junge Disziplin als Schnittstelle zwischen Biologie und Technik, hat bereits einige Impulse gegeben und bietet noch mehr zukunftsträchtige Perspektiven. Man muss nur genau hinschauen.
In diesem prächtigen Bildband werden bereits erzielte Erfolge geschildert, weitere Möglichkeiten erläutert und reichlich Lösungen aufgezeigt, für die es derzeit noch gar keine passende Fragestellung gibt. Wissenschaftler, überwiegend aus dem naturwissenschaftlichen Bereich, aber auch aus Wirtschaftswissenschaft, Kommunikation und so weiter, haben die einzelnen Artikel im Buch sehr gut allgemeinverständlich verfasst; Vorkenntnisse sind nicht vonnöten. Aufgrund des Anthologiecharakters kommt es gelegentlich zu inhaltlichen Wiederholungen, die das Lektorat eigentlich hätte ausmerzen können, aber dies ist der einzige negative Punkt, der mir auffiel.
Sind schon die Texte interessant und spannend geschrieben, so faszinieren den Betrachter die Bilder eher noch mehr, denn eine solche Fülle qualitativ hochwertiger Fotos von Details aus der Natur bekommt man selten geboten - wenn überhaupt. Hochaufgelöste, großformatige Bilder bestimmter Flugpositionen eines Vogels, Mikroskopaufnahmen einer Vielzahl von Radiolarienskeletten, die in ihrer Variationsbreite an Schneeflocken erinnern, und eine Gegenüberstellung zahlreicher technischer Geräte und Errungenschaften mit ihren verblüffend ähnlichen pflanzlichen und tierischen Pendants sind nur Beispiele für die Vielfalt der Bilder und Themen. Selten enthält ein Sachbuch derart großartige Bilder. Oder ein Bildband derart fundierte, interessante Sachinformationen. Daher ist "Faszination Bionik" meiner Meinung nach seinen nicht ganz niedrigen Preis wert.
Dieser Band vermittelt Freude an der Natur mit ihrem Formen- und "Ideen"reichtum und die Zuversicht, dass die Menschheit mit ihrem Latein so schnell noch nicht am Ende sein wird. Viele Lebewesen, auch primitive, können uns Anregungen für die Zukunft bieten. Wie gesagt, wir müssen nur gründlich hinschauen.
Und dass dieses Hinschauen sehr viel Freude bereiten kann, vermittelt "Faszination Bionik" hervorragend - für Jugendliche und Erwachsene, für Menschen mit unterschiedlichstem Bildungshintergrund.