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In den letzten Jahrzehnten hat sich in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen eine Tendenz zur ausschließlichen Heranbildung von Spezialisten entwickelt, die sich optimal in die von Arbeitsteilung geprägten modernen Beschäftigungsverhältnisse eingliedern lassen. Wissenschaftler mit fachübergreifenden Kenntnissen und Interessen sind selten geworden und offensichtlich auch nicht mehr gefragt. Umso mehr Faszination übt unter diesen Umständen das 1917 erschienene und 1942 neu aufgelegte, für die "Andere Bibliothek" etwas gekürzte Buch des britischen Zoologen und Universalgelehrten D'Arcy Wentworth Thompson aus, der Zoologie beziehungsweise Morphologie, Mathematik, Physik und Altphilologie einschließlich der Geisteswissenschaften auf packende und überzeugende Weise miteinander verbindet und so zu überraschenden Erkenntnissen gelangt. Vor allem geht es in diesem Buch um Vergleiche zwischen ähnlichen Strukturen bei unterschiedlichen Organismen oder aber um mathematische Verhältnisse in der Morphologie. Der praktische Nutzen der dargestellten Formen für den jeweiligen Organismus ist hingegen nicht Thema des Buchs.
Im ersten Abschnitt befasst sich der Autor mit der Größe und den sie bedingenden Faktoren sowie ihren Auswirkungen auf den Organismus. Der zweite Abschnitt beinhaltet Betrachtungen zur Form von Zellen, weitere Teile des Buchs sind den Formen von Geweben oder Zellverbänden, Skeletten, Spiralen in der Natur sowie Hörnern und Zähnen gewidmet. Ein langer Abschnitt enthält Betrachtungen zu Form und mechanischer Leistung in Abhängigkeit voneinander, und im letzten Abschnitt geht es um mathematische Vergleiche zwischen verwandten Formen, vor allem der Weiterentwicklung gewisser morphologischer Merkmale im Laufe der Evolution.
In diese durch zahlreiche Skizzen, Diagramme und Tabellen ergänzten Betrachtungen fließt viel Wissenschaftsgeschichte ein, zumeist beginnend mit der griechischen Antike; hier zeigt sich einmal mehr die umfassende Bildung des Autors, aber auch sein didaktisches Geschick, denn die umfassenden Betrachtungen machen die einzelnen Sachverhalte gut nachvollziehbar. Die Abschnitte sind in sich abgeschlossen. Sie werden durch Anmerkungen des Herausgebers ergänzt, der darin sowie im Vorwort auf Eigenheiten des Autors hinweist (etwa dessen Ablehnung mancher Aspekte der schon in seiner Zeit generell akzeptierten Vererbungslehre/Genetik) und notwendige Kürzungen und heute überholte Lehrmeinungen erläutert.
Das Buch wendet sich an einen Leserkreis, der Freude am interdisziplinären Denken aufbringt und in der Lage und willens ist, sich von der Schönheit wissenschaftlicher Zusammenhänge und der Ästhetik mathematischer und morphologischer Kongruenzen verzaubern zu lassen. Obwohl D?Arcy Thompson einen wissenschaftlich einwandfreien, sachlichen Stil pflegt, schimmert seine Begeisterung für die manchmal überraschenden und immer faszinierenden Übereinstimmungen zwischen bestimmten Ausprägungen des Lebens und mathematisch-physikalischen Gesetzen stets durch. Dieser spürbare Respekt vor den Leistungen der Natur, gepaart mit dem Drang, sie zu ergründen, verleiht dem Buch trotz der bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht trocken erscheinenden Thematik seine Spannung.
Der Leser sollte über mathematisches (vor allem geometrisches) Grundwissen verfügen oder zumindest die Bereitschaft besitzen, das eine oder andere mathematische beziehungsweise physikalische Gesetz und einige Fachbegriffe während der Lektüre nachzuschlagen, sonst wird das Buch vermutlich uninteressant.
Obwohl die erste Auflage vor rund neunzig Jahren erschien, ist das darin dargestellte Wissen überraschend zeitlos und unter mancherlei Gesichtspunkten sogar ausgesprochen aktuell, da D?Arcy Thompson durchaus eine Vorstellung von den Möglichkeiten der Bionik hatte; diesbezüglich war er seiner Zeit sicherlich weit voraus. Gleichzeitig stellt das Buch in vielerlei Hinsicht eine einzigartige Momentaufnahme des Wissens zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar. Die wissenschaftliche Synopse bietet die Möglichkeit, das eigene Weltbild zu überdenken und zueinander gehörige Puzzleteile zusammenzufügen - eine Chance, die man angesichts der eingangs erwähnten Spezialisierung auch in Sachbüchern nur selten erhält.
Wie alle Bände der "Anderen Bibliothek" ist auch dieser hochwertig und bei aller Schlichtheit sehr ansprechend aufgemacht und vorzüglich lektoriert. Die Übersetzung scheint, soweit man das ohne Kenntnis des Originals beurteilen kann, ebenfalls gut gelungen. Dem Verlag ist es geglückt, mit diesem Projekt einen bedeutenden wissenschaftlichen Klassiker mit aller gebotenen Behutsamkeit bezüglich Kommentierung und Kürzungen "wiederzubeleben", wozu man nur gratulieren kann.