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Der christliche Glaube, wie er im Mittelalter und bis in die frühe Neuzeit hinein verbreitet war, ist dem Großteil der Europäer abhanden gekommen und existiert allenfalls noch in verwässerter Form, sofern er nicht der Gleichgültigkeit Platz gemacht hat. Die christliche Theologie, bis zur Aufklärung "Leitwissenschaft" und somit Zentrum aller geistigen Beschäftigung, hat in der säkularisierten Welt ihre Bedeutung eingebüßt.
Otto Kallscheuer fasst in seinem Buch "Die Wissenschaft vom lieben Gott" in hinreichender Ausführlichkeit zusammen. Er thematisiert zudem die Rolle des Glaubens in der modernen Gesellschaft. In sich gegliederte Kapitel widmen sich Kernfragen: "Gott glauben - an Gott glauben?", "Gottes Buch und sein Geheiß", "Zweierlei Unglauben" (hierbei geht es um "echten" Unglauben gegenüber der bereits erwähnten Gleichgültigkeit), "Welt und Warum", "Immanenz und Transzendenz", "Schauder und Licht" (Verlust der Ehrfurcht durch nachdrückliches Hinterfragen), "Kosmos und Wüste" (das menschliche Bedürfnis nach Metaphysik), "Multiversum und Monotheismus", "Abgötter und Gotteskrieger", "Gott im Exil", "Einer oder alles", "Welteinheit und Artenvielfalt" (muss man die Welt über einen Gott erklären?), "Das höchste Wesen" (die Natur Gottes), "Schauen und wissen" (vom Wesen der Theologie), "Schöpfer und Schöpfung", "Gesicht und Schrift" (warum Gott keine Augenzeugen hat), "Gott des Gesetzes", "Welcher Gott?" (Gemeinsamkeiten der drei monotheistischen Weltreligionen). Diese für das ursprüngliche Glaubensverständnis zentralen Themen werden aus der Sicht zahlreicher Theologen und Philosophen der unterschiedlichsten Richtungen und Schulen dargestellt beziehungsweise analysiert.
Am Anfang jedes dieser Kapitel stehen geschickt ausgewählte Literaturstellen sowie für das Kapitelthema typische, oft provokative Fragen und Antworten. Das Dialogprinzip findet sich auch häufig im eigentlichen Text; der Autor stellt sich einem fiktiven hartnäckigen, kritischen Diskussionspartner.
Wie alle Bände der "Anderen Bibliothek" ist auch dieser wunderschön gestaltet und hochwertig verarbeitet, und er enthält außergewöhnliche Lektüre. An diesem Buch besticht die Vielfalt der Anknüpfungspunkte, der Perspektiven, der Wege zur Annäherung. Es ist unübersehbar, dass der Autor bei der Recherche keine Mühe gescheut hat und mit der Materie gründlich vertraut ist. Auch der Leser sollte nicht gänzlich unbedarft daherkommen und zumindest die bedeutendsten abendländischen Philosophen und Theologen kennen, sonst tut er sich schwer. Das Buch ist in einem angenehmen, abwechslungsreichen Stil verfasst, allenfalls eine Tendenz zum Manieriert-Formelhaften mag stören (so wird Gott, vielmehr der "Liebe Gott" - ist er das eigentlich ohne jede Einschränkung, oder wird er durch das Attribut nicht allzu sehr vermenschlicht? -, stets typographisch hervorgehoben: ER, IHM, IHN, SEin ?) oder auch ein wenig verhohlenes Überlegenheitsdenken den Zweifelnden gegenüber. Diese werden mit Hilfe der "Wissenschaft vom lieben Gott" wohl kaum zum Glauben finden, zumal das darin kritisierte skeptische, unermüdliche Hinterfragen eine typisch menschliche Eigenschaft ist - und warum hätte Gott, zumal der liebe Gott, den Menschen mit einem kritikfähigen, üppigen Verstand ausstatten sollen, wenn dieser nicht zum Gebrauch gedacht wäre? Wohin blindes Folgeleisten führt, hat die Inquisition einschließlich der Hexenverfolgung gezeigt, und es wird auch heute in anderen Kulturkreisen offensichtlich. Eine angemessene Betrachtung hierzu fehlt im Buch.
Sprich, an diesem Buch können und müssen sich die Geister scheiden. Aber auch wenn man mit dem Autor nicht in jeder Hinsicht übereinstimmt, bietet die Lektüre sehr viel Wissenswertes und interessante Erkenntnisse über die Religion, die unsere Kultur wesentlich geprägt hat, ob wir das nun wahrhaben wollen oder nicht. Springt der Funke des echten, tiefen Glaubens auch nicht zwingend über, so mag man vielleicht doch eine - durchaus lohnende - Annäherung auf philosophischer Ebene vollziehen. Dafür liefert das Buch viele Anregungen.