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 Puls

Autoren: Stephen King
Übersetzer: Wulf Bergner
Verlag: Heyne

Cover
Gesamt +++--
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Clayton Riddell hat eigentlich allen Grund zur Freude: Soeben hat der Comiczeichner, in dessen Leben bei weitem nicht alles glatt ging, eine seiner Geschichten an einen namhaften Verlag verkauft. Die Sonne scheint, es ist ein wunderschöner Tag in Boston, Clay stellt sich an einem Eiswagen an - als plötzlich das Ende der Welt hereinbricht, so scheint es jedenfalls. Irritiert von merkwürdigen Schreien dreht Clay sich um und glaubt seinen Augen nicht zu trauen, als er sieht, wie ein Mann seinem Hund offenbar ein Ohr abbeißt. Ein eben noch harmloser Teenager verbeißt sich im Hals einer Frau, ein anderes Mädchen verliert scheinbar den Verstand und rennt, immer wieder den Satz "Wer bin ich?" ausstoßend, mit voller Wucht gegen einen Laternenpfahl. Überall um den fassungslosen Mann herum bricht Chaos aus, eine beispiellose Welle der Gewalt überrollt die Großstadt: Ein Irrer geht mit einem Fleischermesser auf Clay los, Menschen springen aus Hochhäusern, Gebäude gehen in Flammen auf, Leichen liegen in den Straßen - Boston gleicht nach kurzer Zeit einem Inferno.

Der Einstieg in Stephen Kings Roman "Puls", erschienen 2006 im Heyne Verlag, ist furios und atemberaubend - brutal und mit unglaublichem Tempo wird der Leser hineingeworfen in eine Katastrophe, die über die eben noch ahnungslosen Einwohner einer amerikanischen Großstadt hereinbricht. Es bleibt zunächst keine Zeit zum Luftholen, und das ist gut so, denn der rasche Einstieg in die Geschichte, der nahezu komplett ohne Einleitung auskommt, ist sehr gelungen und packt den Leser sofort. Schnell erschließt sich sowohl dem sympathischen Protagonisten Clay als auch dem Leser, dass Handys der Auslöser des Grauens sind. Menschen, die eben noch vertrauensvoll über ihr Mobiltelefon mit jemandem sprachen, drehen plötzlich durch, werden zu gewalttätigen, hirnlosen Zombies.

Stephen King bekannte sich in einem Interview dazu, keine Handys zu mögen und selbst keins zu besitzen. Ob dies Fakt ist oder nur geschickter Marketing-Schachzug für seinen Roman, spielt hier keine Rolle. King hat mit dem Handy-Horror ein Thema aufgegriffen, das heute das Leben vieler Menschen wenn auch nicht beherrscht, so doch entscheidend beeinflusst: die Abhängigkeit von der modernen Kommunikation, das Sich-verlassen auf die moderne Technik, das Immer-und-überall-erreichbar-sein. In alten Horrorfilmen und -romanen konnten die Opfer keine Hilfe per Handy rufen, weil es die mobilen Telefone schlicht und einfach nicht gab - hier wird der Spieß umgedreht: Nahezu jeder besitzt ein Handy, und als das große Morden losbricht, greift jeder reflexartig und panisch zum Telefon, um die Polizei zu rufen oder die Angehörigen zu erreichen.
So breitet sich der "Puls" - denn Clay ist schnell überzeugt, dass es sich um eine Art Störsignal handeln muss, das die Menschen wie einen Virus befällt - rasend schnell aus. Nur wer aus Prinzip kein Handy hat oder wer das Glück eines defekten Geräts hat, bleibt verschont. Zunächst. Denn die "Handy-Verrückten", wie sie schnell von den "Normalen" getauft werden, bleiben keinesfalls auf dem Stand des hirnlosen, blutrünstigen Zombies. Sie lernen, und zwar beängstigend schnell. Nach wenigen Tagen entwickeln die Verrückten so etwas wie ein Sozialleben, eine telepathische Sprache und Intelligenz. Sie beginnen sich in Schwärmen zu organisieren, und ihr Verhalten scheint auf einen weit größeren Plan hinzudeuten …

Nach Hunden (Cujo), Einsamkeit und Klaustrophobie (Shining), kindlichen Ängsten (ES), Aliens (Tommyknockers und Duddits) und wandelnden Toten (Friedhof der Kuscheltiere) hat sich King hier einer weiteren, simplen Angst als Stoff für einen Roman bedient: Technikangst und Abhängigkeit von den "Wundern" der modernen Zivilisation. Der Roman, der 430 Seiten umfasst, ist insgesamt spannend, leicht zu lesen und von hohem Tempo, so dass keine Langeweile aufkommt. Dennoch ist er mit Sicherheit nicht Kings besten Werken zuzuordnen. Während in den meisten anderen Romanen des US-amerikanischen Schriftstellers ein ausreichend komplexer Plot vorhanden ist und die Charaktere mit oft atemberaubendem psychologischen Tiefgang entwickelt sind, so kratzt "Puls" eher an der Oberfläche. Das Buch bietet durchweg ordentliche Unterhaltung und hat wenig Schwächen; vor allem stilistisch und sprachlich lässt sich King als unbestreitbar sehr versierter Schriftsteller nichts zu Schulden kommen. Doch inhaltlich hat die Geschichte kaum etwas zu bieten; die Handlung beschränkt sich eigentlich komplett darauf, dass ein Mann in einer schrecklichen Katastrophe nach seiner Frau und seinem kleinen Sohn sucht, immer hoffend, dass sie noch am Leben und nicht dem Wahnsinn verfallen sind. Zwar trifft er dabei auf mehrere interessante Charaktere und es gibt Hindernisse und Gefahren zu bewältigen, doch ein echter, großer Zusammenhang fehlt. Der Horror setzt mehr auf Ekel und brutale Szenen als auf eleganten Grusel, der wirklich unter die Haut gehen würde. King überrascht seine Leser in vielen seiner Romane mit phantastischen, perfekt durchdachten Wendungen, ganz großer Mystik und subtilem Psycho-Horror - "Puls" ist demgegenüber weitaus einfacher gestrickt, was aber nicht bedeutet, dass das Werk nicht unterhaltsam wäre.

In der Widmung am Anfang des Buches findet sich der Name "George A. Romero". Der Kult-Regisseur hat mit seinen Werken das Zombie-Genre eigentlich erst erfunden und durch geniale Filme wie "Night of the Living Dead" und "Dawn of the Dead" unsterblich gemacht. Häufig wurde Romero imitiert - leider hat man bei "Puls" das Gefühl, dass auch King sich allzu großzügig an Versatzstücken aus sämtlichen verfügbaren Zombie-Filmen bedient hat, auch wenn das Handy-Element neu ist. Die Hommage an den Meister ist zumindest stellenweise zur Nachahmung verunglückt, wenn auch zu einer handwerklich ganz ausgezeichneten Nachahmung. Manche Szenen erinnern den Leser so stark an Filmszenen aus "Nacht der lebenden Toten" und sogar an die überdrehte Komödie "Shaun of the Dead" - ebenfalls eine Hommage -, dass man glaubt, sie schon einmal gesehen zu haben.

Fazit: Fans von Stephen King können hier trotz mancher Kritikpunkte eigentlich bedenkenlos zugreifen, solange sie kein Werk von der Tiefe der Saga um Kings Dunklen Turm erwarten. "Puls" bietet mehrere Stunden schnelle, atemlose Unterhaltung und fast durchgehend dichte Spannung. Das Buch ist insgesamt intelligent konstruiert, die Charaktere sind sympathisch, Sprache und Stil sind, wie für King typisch, fast makellos, sieht man einmal davon ab, dass der Autor es sich leider angewöhnt hat, den Tod von Hauptfiguren schon Seiten im Voraus unheilvoll anzukündigen, so dass man als Leser auch beim Tod von lieb gewonnenen Charakteren nur mäßig überrascht oder schockiert ist.

Christina Liebeck



Hardcover | Erschienen: 01. März 2006 | ISBN: 9783453028609 | Originaltitel: Cell | Preis: 19,95 Euro | 430 Seiten | Sprache: Deutsch

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