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 Wie Licht schmeckt


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung
Ton


Sein Vater schweigt. Seine Mutter weint. Lukas wünscht sich zu seinem vierzehnten Geburtstag allein zu sein. Drei Tage allein durch die Stadt zu ziehen. Ohne Ziel und selbstbestimmt.
Doch irgendetwas geht schief. Erst trifft er Rico aus der Schule und muss ihn endlos ertragen, ehe er sich davonmacht. Und dann rennt er auch noch auf der Rolltreppe fast in dieses Mädchen. Er fällt er der Länge nach auf die Rolltreppe. Das tut weh. Warum ist ihm die blöde Kuh auch nicht ausgewichen. Er ist zwar verkehrt herum auf die Rolltreppe gelaufen, aber sie hätte ihm bloß ausweichen müssen. Anstatt wie festgewachsen dazustehen. Dumm nur, dass er den weißen Stab übersehen hat. Das Mädchen ist blind. Und jetzt macht sie ihn auch noch an, fragt ihn aus und scheint ihn dabei unverwandt anzusehen. Mist aber auch. Alles läuft verkehrt.
Er rennt davon. Sein zielloser Weg führte ihn ausgerechnet zu Opa. Der schweigt noch anhaltender als sein Vater. Nur der Hundert-Mark-Schein, den er ihm zum Geburtstag gibt, ist okay; schnell haut Lukas wieder ab. Und jetzt? Jetzt steht er ausgerechnet vor dem Lokal, dessen Name er auf einem Zettel, den das Mädchen vorhin verloren hat, gelesen hat. Und traut sich nicht rein. Als er dennoch die Tür öffnet und sich setzt, sieht er das Mädchen die Gäste bedienen. Sie bringt Gläser, Teller, trägt das Tablett sicher durch die Stuhlreihen. Unglaublich. Sie macht keinen unsicheren Eindruck, geht, als ob sie sehen könnte und kommt schließlich direkt auf ihn zu. Er bestellt eine Cola, sie fragt ihn, ob er sie verfolgt hat. Scheint direkt zu wissen, wer er ist. Muss ihn denn heute jeder ausfragen. Er wollte einfach nur durch die Stadt laufen und jetzt sitzt er in einer Kneipe, wird von einem blinden Mädchen bedient und ausgefragt. Das kann doch alles nicht war sein. Er muss träumen und alle um ihn herum, versuchen ihn reinzulegen. Das Mädchen ist gar nicht blind und irgendeine Kamera beobachtet seine Reaktionen. Ganz bestimmt. Jetzt steht das Mädchen, dass sich zu ihm an den Tisch gesetzt hat, auf breitet die Arme aus und begrüßt ein anderes Mädchen freudestrahlend. Und was macht die? Sie setzt sich zu ihm und fängt an ihn auszufragen. Ob er der Freund der Blinden sei? Ob er auch reden könnte? Ob er stumm sei? Ob er von zu Hause weggelaufen sei?
Er muss hier weg. Muss seinen Geburtstag retten. Muss wieder ziellos durch die Sonne laufen und über Beckett nachdenken. Doch er rührt sich nicht vom Fleck. Er sieht das Lächeln auf Sonjas Gesicht.

Friedrich Ani ist mir bisher nur bekannt durch seine Serie um Kommissar Süden und seine teils schwierigen Ermittlungen.
"Wie Licht schmeckt" aber ist etwas ganz anderes. Held und Mitteiler seiner Gedankenwelt ist ein Vierzehnjähriger. Der Junge - oder junge Mann? - ist schweigsam, spricht aber in Gedanken ohne Pause. Er beobachtet und lernt aus allem und jeder Kleinigkeit. Er ist aufmerksam und intelligent. Liest Beckett und identifiziert sich mit den schweigsamen und beredten Helden Becketts. Er versteht seine Mutter nicht und hasst seinen Vater. Und ist ansonsten ein ganz normaler Jugendlicher, mit allen Problemen, die man in diesem Alter eben hat.
Seine Sprache und Gedankenwelt werden von Ani wundervoll knapp, äußerst realistisch und spannend in eine Geschichte verpackt, die verzaubert. Der Hörer folgt Lukas durch die Stadt, beobachtet wie er die Umgebung, schweigt und ist fasziniert. Diese Geschichte, völlig unvorhergesehen in ihren Wendungen und Wirrungen, reißt mit. Wie in einem Traum lässt man sich von Ani und seinem jungen Helden mitnehmen in ein Geschehen, dass man so noch nie gehört hat. Zum einen liegt das an der Art und Weise, wie Ani Dinge, Geschehnisse und Menschen beschreibt - nämlich so lebendig und real, dass man sie zu kennen glaubt -, zum anderen liegt das an der überschäumenden Phantasie des Autors. Immer wieder lässt er den Alltag und das Alltägliche zurücktreten hinter einen Einfall, der so liebenswert wie seltsam erscheint und voller Staunen folgt man diesen Schritten zwischen Banalem und Phantastischem, zwischen Realität und irrealer Innenwelt der Protagonisten.
Und wenn aus dieser Melange des Gewöhnlichen und Ungewöhnlichen eine Liebesgeschichte wird, die keiner der Personen herbeigesehnt oder auch nur für möglich erachtet hat, ist der Hörer vollend gefesselt von diesem Hörbuch.

Diese Geschichte ist so schön wie ein Sommermorgen nach der Nacht mit seiner Geliebten. Entspannt und zufrieden lauscht man der Sprache Anis und seinen Gedanken; voller innerer Spannung folgt man dem Erzählfaden nur wenig später um zum Ende hin seufzend daran zu denken, endlich aufzustehen. Wie Kaffeeduft - wenn man den ein Kaffeegenießer ist - weht diese Geschichte durch den Raum. Vorgetragen wird dieses Hörbuch ohne Fehl und Tadel von Heikko Deutschmann. Dies ist eine erstaunliche Leistung, denn die Fallen des Textes sind mannigfaltig. Da werden äußerst knappe Bemerkungen derart wichtig, dass es auf die richtige Betonung enorm ankommt. Gedanken, Gefühle und Situationen werden so lebendig und anschaulich von Deutschmann intoniert, dass man sich mitten in die entsprechende Szenerie versetzt fühlt - ja man hat tatsächlich das Gefühl, Licht zu schmecken. Den eine der wichtigsten Pointen dieses Hörbuchs ist es eben, dass man zum Hören verdammt ist. Licht, Geschmack, Gefühl wie die blinde Sonja also nur mit den Ohren wahrnehmen kann. Dies meistert Deutschmann mit Bravour.

Stefan Erlemann



CD | CD-Anzahl: 4 | Erschienen: 1. Mai 2006 | ISBN: 3899032543 | Laufzeit: 312 Minuten | Preis: 22,90 Euro

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