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Wer verstehen will, wie Deutschland in das schwärzeste Kapitel seiner Geschichte, den Nationalsozialismus, abgleiten konnte, kommt nicht umhin, sich mit der Weimarer Republik zu befassen. Auch heute sind die vielfältigen Schwierigkeiten, an denen die demokratischen Politiker scheiterten, nicht leicht nachzuvollziehen. Horst Möller hat sein Buch daher auch nicht in Form eines typischen chronologischen Geschichtsbuchs verfasst, sondern es in drei große Themenbereiche aufgeteilt, die die besondere Ausgangssituation, die massiven Probleme von innen und außen und schließlich das erbärmliche Ende wahrlich unvollendeter Demokratie aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchten:
I. Zwei Reichspräsidenten - Chance und Scheitern
II. Entstehung und Bewährungsproben der Weimarer Republik 1919-1930
III. Krisensymptome und Auflösung der Weimarer Republik
Die Situation, mit der sich die Väter der Weimarer Verfassung konfrontiert sahen, können sich später Geborene kaum vorstellen. Millionen von jungen, ehemaligen Soldaten, viele von ihnen ohne jegliche berufliche und gesellschaftliche Perspektive, ein Volk, das aufgrund falscher Berichterstattung von einem Tag auf den anderen mit der bitteren Wahrheit um den verlorenen Krieg konfrontiert und in der Folge durch eine Serie von Revolutionen und Putschen verunsichert wurde, Parteien und Politiker, die Regierungsverantwortung nicht gewohnt waren und, ganz im Sinne der alten Eliten, die Folgen des Krieges ausbaden mussten, den sie nicht verschuldet hatten: welche Hypothek für einen jungen Staat mit einer Staatsform, die für die meisten überraschend kam und die von der Mehrheit der Bevölkerung und über lange Zeit auch von einer Mehrheit der Parteien nicht gewünscht wurde. Für die Linke, die vor allem den Großstädten entstammte, ging die Revolution nicht weit genug - sie hätte sich eine Räterepublik nach dem Vorbild der Sowjetunion gewünscht. Die Rechte wollte die Restauration der Monarchie. Der Autor schildert treffend, bemerkenswert objektiv und anhand vielseitiger Quellen das Dilemma der demokratischen Politiker, von SPD, Zentrum, DDP und, mit Vorbehalten, DVP, die von den Extremisten des rechten und linken Endes des politischen Spektrums ständig diffamiert und provoziert wurden, denen der Rückhalt durch die Bevölkerung fehlte, und deren Politiker zuweilen, überfordert wie sie mit den Folgen des Versailler Vertrags und innenpolitischen Katastrophen wie der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Ermordung einiger "lebenswichtiger" Politiker waren, in die Fallen der Weimarer Verfassung tappten. Diese sollte nach dem Willen ihrer Väter der Demokratie auch in Extremsituationen Rückhalt bieten - und schaufelte ihr durch die unglückselige Kombination des Notverordnungs-Artikel 48 mit anderen Paragraphen ein Grab in Form von Präsidialkabinetten, die von keiner Mehrheit getragen wurden, einem vergreisten, von schlechten Beratern beeinflussten und im Grunde verfassungsfeindlichen Präsidenten die Verantwortung überließen und schließlich über von Papen und Schleicher einen Hitler möglich machten.
Eine ganze Reihe Autoren hat sich am Phänomen "Weimarer Republik" versucht. Dieses Buch besticht durch die enorme Bandbreite der betrachteten Konstellationen und Interessen, die Einfluss auf die Entwicklung der Republik nahmen, und zwar von Anfang an. Auch die aus dem Kaiserreich als "Hypothek" übernommenen Vorbelastungen finden angemessen Eingang. Mit scharfem Blick zeigt der Autor die Verdienste und Mängel der mehr oder weniger verfassungstreuen Parteien der Mitte auf, porträtiert ihre herausragenden und oft auch tragischen Politiker, so den auch in der SPD gern verkannten Präsidenten Ebert, Rathenau, der Deutschland echte Perspektiven bot, und Stresemann, den sein Engagement Gesundheit und Leben kostete, und analysiert die Haltung des "Volkes" sowohl anhand regionaltypischer Tendenzen als auch mittels der längerfristigen Entwicklung der Gesellschaft und Kultur.
Die Interpretation des Versagens der Demokratie à la Weimar auf der Grundlage einer derart multikausalen Betrachtung ermöglicht einen ungewöhnlich differenzierten Blick auf die beginnende deutsche Katastrophe. Das Buch entschuldigt die Machtergreifung der NSDAP nicht, aber es macht dem Leser jene turbulente Zeit und die Zerrissenheit einer Gesellschaft begreiflich, die von der Revolution 1918 überrascht oder, je nach Standpunkt, enttäuscht worden war. Interessant ist unter anderem die Hervorhebung juristischer Details: Welche Schwächen der Weimarer Verfassung wurden ihr zum Verhängnis? Warum haben die Verfassungsväter, allesamt Demokraten, diese Schwächen zugelassen?
Im Anhang findet man neben einem ausführlichen Literaturverzeichnis ein Personenregister, einen sehr nützlichen chronologischen Überblick und Tabellen mit den wichtigsten Ministern der Weimarer Republik, den Wahlergebnissen sowie der Entwicklung der Arbeitslosigkeit, die den Text hervorragend ergänzen.
Der unkomplizierte Stil und die sehr gute Allgemeinverständlichkeit des Buchs bieten einen guten Einstieg ins Thema. Selbst wenn Sie sich jedoch als geschichtlich und politisch interessierter Mensch bereits mit der Weimarer Republik befasst haben, wird Ihnen dieses Buch vermutlich eine Reihe neuer und überraschender Erkenntnisse bieten, die sich als wichtige Puzzleteile zum Verständnis der dramatischen und tragischen Jahre für Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erweisen.