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"Die Gegenwart unserer Schulklassiker endet lange, bevor unsere heutigen Abiturientinnen und Abiturienten das Licht der Welt erblickten" schrieb der Literaturwissenschaftler Clemens Kammler im Jahr 1998. Neuere Texte finden nur selten den Weg in deutsche Klassenzimmer.
Diesen Missstand benennt die Autorin Ricarda Dreier in ihrem Buch "Literatur der 90er-Jahre in der Sekundarstufe II". Wer sich mit der Literatur der 90er-Jahre beschäftige, erkenne, dass das neue Erzählen eine erweiterte Analyse unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten fordere. Im Mittelpunkt dieser Literatur, die durch die Postmoderne beeinflusst sei, stehen narrative Elemente wie Metafiktion, Intertextualität, Perspektivenvariationen, die an der Glaubwürdigkeit des Erzählers zweifeln lassen, oder selbstreflexive Bezüge, die das literarische Werk und dessen Wirklichkeitsdarstellung an sich in Frage stellen. Die wichtigsten Merkmale der neueren Literatur lägen darüber hinaus in ihrer Medialität sowie in ihren subjektiven Erfahrungsräumen.
Diese medialen Strukturen zu erfassen und diese Räume zu erkunden soll nach Meinung von Ricarda Dreier, die an der Universität Bielefeld Latein und Deutsch für die Sekundarstufen I und II studierte, als eine wichtige Herausforderung angesehen werden. Ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Ideen zur Umsetzung im Unterricht in der Oberstufe schrieb sie unter dem bereits genannten Titel in der Reihe "Deutschdidaktik aktuell" nieder. Sie präsentiert darin drei Unterrichtsmodelle, die sich jeweils mit einem literarischen Text oder mit Auszügen aus einem Werk beschäftigen, deren Erscheinungszeiten in den späten 90er Jahren liegen: "Sommerhaus später" von Judith Hermann, "Soloalbum" von Benjamin von Stuckrad-Barre und "Agnes" von Peter Stamm.
Zunächst erfolgt im ersten Teil in Kapitel eins ein kurzer Einblick in grundlegende Aspekte der Literatur und Erzähltheorie, der verdeutlicht, welche Verfahren es gibt, einen Text auf seine Bedeutung hin zu untersuchen, und welchen Einfluss die verschiedenen Methoden aufeinander haben. Dabei bildet die Hermeneutik den Ausgangspunkt, da ihr traditionelles Verständnis von dem Verhältnis Autor - Text - Sinn noch immer in Interpretationsphasen im Deutschunterricht zu finden ist. Dazu stehen strukturalistische und poststrukturalistische Ansätze im deutlichen Gegensatz, indem sie ein anderes Verständnis von Sprache und ihres Bedeutungsgehalts entwickeln. Als eine mögliche neue Leseart im Rahmen poststrukturalistischer Literaturdidaktik stellt die Autorin die Dekonstruktion vor, da dieses Konzept primär von dem einheitlichen Sinnbegriff Abstand nimmt und somit für einen möglichen Einsatz im Unterricht und die neuen Texte geeignet scheint.
Dreier hält eine kritische Auseinandersetzung mit den grundlegenden Theorien für obligatorisch und vergleicht daher nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung der Narratologie die Theoretiker Franz K. Stanzel und Gérard Genette. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung steht die Frage, welche der beiden Theorien sich am ehesten für eine Erzähltextanalyse in der heutigen Zeit und für die modernen Texte eignet.
Die literarischen Werke von Hermann, Stuckrad-Barre und Stamm sind Gegenstand des zweiten Kapitels. Um einzuschätzen, welche vielfältigen Möglichkeiten die Literatur der 90er Jahre sowohl in literarischer als auch in didaktischer Hinsicht bieten, zeigt Dreier ihre narrativen Tendenzen und thematischen Schwerpunkte auf.
Kapitel drei bildet den theoretisch-didaktischen Rahmen für die Unterrichtsmodelle: Nach einer Darstellung der Diskussion über Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht werden verschiedene didaktische Konzeptionen aufgeführt, auf die sich die einzelnen Unterrichtsmodelle stützen.
Der Autorin gelingt es mit ihren Unterrichtsmodellen in der praktischen Umsetzung die narrativen Besonderheiten und thematischen Anknüpfungspunkte der Literatur der 90er Jahre mit angemessenen didaktischen Modellen zu verbinden und außerdem einen Ausgleich zwischen der scheinbaren Diskrepanz von literaturtheoretischen Ideen und analytischen Vorgehensweisen zu schaffen.
Dreier setzt sich somit in ihrem wissenschaftlichen Werk "Literatur der 90er-Jahre in der Sekundarstufe II" erfolgreich und nachvollziehbar für den Einsatz moderner Gegenwartsliteratur ein. Das Buch richtet sich an ein pädagogisches Fachpublikum und bietet jedem Lehrer eine gute Anregung, neben klassischer auch aktuelle deutsche Literatur in den Unterricht zu integrieren. Die detaillierten Unterrichtsmodelle laden den Pädagogen geradezu ein, "Sommerhaus später", "Soloalbum" oder "Agnes" mit den eigenen Schülern zu behandeln. "Literatur der 90er-Jahre in der Sekundarstufe II" ist daher eine gelungene wissenschaftliche Arbeit mit praktischem Bezug.