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Kevin Katchadourian hat eine schreckliche Gewalttat begangen: Kurz vor seinem 16. Geburtstag hat er sieben Mitschüler, einen Lehrer und einen Angestellten der Cafeteria seiner High-School ermordet. Kevins Mutter Eva, eine erfolgreiche Karrierefrau und die Erzählerin dieser Geschichte, besucht ihn regelmäßig im Gefängnis und wirft einen kritischen Rückblick auf die Erziehung ihres Sohnes.
Lionel Shriver erzählt in ihrem Buch "Wir müssen über Kevin reden" aus der Sicht einer Mutter, die sich auf schmerzhafte und ehrliche Weise mit Schuld und Verantwortung auseinandersetzt. Von ihrem Umfeld verurteilt und auf sich selbst gestellt, findet Eva den Mut, sich in aller Offenheit den quälenden Fragen auszusetzen: Hätte sie ihr Kind mehr lieben sollen? Hätte sie das Unglück verhindern können? Hätte sie ihre Ehe retten können? Wie hätte sie Gang der Ereignisse beeinflussen können?
Eva leitete ihren eigenen Verlag für Reiseführer und düste zwecks Recherche furchtlos in der Weltgeschichte umher. In Franklin fand sie ihre große Liebe und die beiden ließen sich eher zum Kinderkriegen hinreißen, als dass sie selbst den großen Wunsch dazu verspürten, denn ihr gesamter Freundeskreis war von der Krankheit Schwangerschaft befallen und mit einem Kind verliefe das Leben ihrer Ansicht nach mehr nach Plan. Leider funktionierte aber von Anfang an nichts, wie es sollte.
Kevin lehnte seine Mutter schon als Kleinkind komplett ab. Über die Jahre verschliss er mehrere Babysitter, quälte im Kindergarten kleine Mädchen und zerstörte Evas Souvenirs. Seine Mutter glaubte, dass er von Natur aus boshaft wäre, während Vater Franklin ihr schwere Vorwürfe machte, sich dem gemeinsamen Kind gegenüber negativ zu verhalten. Doch mit den Jahren ging der hochintelligente Kevin immer weiter: Er ertränkte ein Haustier, präparierte das Fahrrad des Nachbarjungen und ließ vermutlich seine kleine Schwester erblinden. Und dann ging er eines Tages mit der Armbrust bewaffnet in seine Schule ?
Eva arbeitet die Ereignisse um Kevin in Form von Briefen an ihren mittlerweile Ex-Mann Franklin auf. Sie schildert offen ihre dunklen Ahnungen, die in keiner Weise mit dem Bild des liebenswerten Jungen übereinstimmen, das sein Vater von ihm hatte. Doch anstatt sich hinter Schuldzuweisungen zu verstecken, hinterfragt sie ehrlich und schonungslos ihre eigene Rolle in diesem dramatischen Geschehnis. Sie erzählt die Geschichte in den Briefen in Rückblenden: Kindheit, Schulzeit und Gefängnisbesuche beim Sohn. Franklin antwortet nie und so steht Eva mit den quälenden Fragen und der Schwere der mütterlichen Schuld am Ende ganz alleine da.
Shrivers Roman "Wir müssen über Kevin reden" wurde wegen seines brisanten Themas schnell international bekannt und führte zu zahlreichen Debatten in Amerika und England. Nach den Massakern an der Columbine High-School in den USA oder an der Gutenbergschule in Erfurt waren manche selbst ernannten Experten mit Antworten schnell bei der Hand. Der Roman aber entwickelt Nahaufnahmen dieser Antworten und zeigt die ganze Hilflosigkeit. Wer ist schuld, wenn Eltern nicht lieben können oder nicht erziehen können?
Trotz der differenzierten Betrachtungsweise und der interessanten Erzählperspektive ist es jedoch ein großes Manko des Romans, dass er schlicht und einfach zu lang ist: 560 Seiten Monolog mit Dopplungen, Ausschweifungen und diversen Metaphern sind auf die Dauer ermüdend und verlieren dadurch an Qualität.
Die gefeierte, aber oftmals auch gescholtene Lionel Shriver wurde allerdings für das große Wagnis, das sie mit diesem Roman eingegangen ist, mit dem britischen Orange Prize ausgezeichnet, einem der wichtigsten internationalen Literaturpreise für Frauen.