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Seit Freud die Psychoanalyse begründete, insbesondere aber in den letzten vierzig Jahren, waren und sind Mütter verunsichert. Denn wenn ihre Kinder sich nicht auf die von der Gesellschaft oder von ihnen selbst gewünschte Weise entwickelten, schob man stets den Müttern die Schuld zu und ließ sie meistens damit allein.
Vor allem fällt es den modernen Müttern von Jungen schwer, diese "richtig" zu lieben und zu erziehen, denn ein zu intensiver Ödipus-Komplex, den sie hervorrufen könnten, hängt wie ein Damoklesschwert über der Beziehung zu ihrem Sohn. Und der Ödipus-Komplex ist beileibe nicht die einzige Gefahr, die Mütter nach gängigen Vorstellungen für die Psyche ihrer Söhne bereithalten.
Der französische Arzt, Psychologe und Psychoanalytiker Alain Braconnier untersucht die Vorwürfe, denen sich Mütter stellen müssen, wenn sie zu ihren Söhnen eine enge und liebevolle Beziehung pflegen, und entkräftet sie im ersten Teil des Buchs: Die zentrale, durch viele Fallbeispiele belegte Aussage lautet, dass eine Frau ihren Sohn niemals zu sehr lieben kann, ja, dass eine intensive Liebe zwischen Mutter und Sohn natürlich ist und die beste Grundlage für die Entwicklung eines Jungen zu einem starken, selbstbewussten Mann bietet. Natürlich verweist der Autor auch auf ein paar Gefahren, denen es zu begegnen gilt, zum Beispiel jene einer inzestuösen Neigung.
Im zweiten Teil geht es um die Erziehung von Jungen, die bereits als Babys in mancher Hinsicht ein anderes Verhalten zeigen als Mädchen. Später zeigt sich, dass Jungen sich nicht so gut verbal ausdrücken können wie Mädchen, aber nicht minder sensibel sind und stark auf nonverbale Botschaften reagieren. Der Abschnitt beruht auf den einzelnen Entwicklungsabschnitten und bietet Anregungen zu einer Erziehung, die auf die spezifischen Bedürfnisse und die Natur der Jungen eingeht.
Die "Funktion" der einzelnen Familienmitglieder wird im dritten Teil untersucht; die Mutter, die ja üblicherweise "Haupterziehende" ist, erhält ein eigenes Kapitel. Auch die Bedeutung der Familie als Ganzes wird betrachtet, wobei moderne Lebensformen, insbesondere die Patchworkfamilie, angemessen Eingang finden.
Der vierte Teil schließlich befasst sich mit Problemen, die in der Jungenentwicklung auftreten - klassische wie die Abnabelung von Mutter und Familie und solche, die, wie zum Beispiel Drogenkonsum oder Gewalttätigkeit, nicht alle Familien betreffen. Auch hier bietet der Autor wie in den anderen Abschnitten erprobte Lösungsansätze an, einschließlich der Konsultation von Therapeuten oder Hilfeeinrichtungen für Familien, wenn andere Versuche scheitern.
Zunächst einmal hat dieses Buch auf Mütter von Jungen eine beruhigende Wirkung, denn der Autor spricht ihnen das Recht zu, in der Beziehung zu ihrem Sohn auf ihre Instinkte zu vertrauen. Als sehr anschaulich erweisen sich in allen vier Teilen die erwähnten zahlreichen Beispiele aus der Praxis des Autors, aus denen natürlich auch hervorgeht, dass die extreme Ausprägung "Gluckenmutter" das Ideal verfehlt - aber hierbei ist schließlich ein hoher Anteil Eigenliebe im Spiel. Braconnier idealisiert die Mütter nicht, doch er gesteht ihnen innerhalb großzügiger Grenzen eine individuelle, durch ihren Charakter bestimmte Ausübung ihrer Rolle zu. Das unterscheidet dieses Buch wohltuend von vielen Ratgebern, die versuchen, Mütter ungeachtet ihrer jeweiligen Persönlichkeit in eine allzu gründlich ausgefeilte Rolle zu drängen. Eine Mutter, die ihre Kinder nach einem erlernten Schema erzieht, wird wohl kaum glaubwürdig wirken.
Als Mutter kann man Braconnier zufolge die Liebe eines Sohnes praktisch nicht verspielen, selbst wenn man gravierende Fehler macht, aber man kann ihn enttäuschen. Der Autor zeigt auf, wie man durch eine an der Jungennatur orientierte Erziehung solche Enttäuschungen vermeiden oder sie, falls sie eingetreten sind, in vielen Fällen reparieren kann. Zudem gibt er Hinweise darauf, wie Mütter regulierend auf die Beziehungen und das Verhalten innerhalb der Familie einwirken können, etwa, wenn der Junge die Schwester unterdrückt, wenn Brüder miteinander konkurrieren oder wenn es zum Konflikt beziehungsweise zur Konkurrenz mit dem im Allgemeinen wenig präsenten Vater kommt.
Das Buch ist für Mütter mit unterschiedlichstem Hintergrund geeignet, weil es auf Allgemeingültigkeit und -verständlichkeit Wert legt und Fachbegriffe weitgehend meidet. Der erste Teil mag etwas zu ausführlich geraten sein, doch vielleicht ist es tatsächlich nötig, für die verunsicherten Mütter derart intensiv eine Lanze zu brechen. Die anderen Abschnitte sind straffer, aber ebenso klar und anschaulich gehalten.
Ein Buch wie dieses, das Liebe als Hauptelement mütterlicher Jungenerziehung betont, statt vorrangig Fehler zu bemängeln und Versagensängste zu schüren, ist eigentlich schon lange überfällig - umso besser, dass es von einem hervorragend qualifizierten Autor stammt und keine Fachkenntnis der Leserinnen voraussetzt.