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13 Jahre lang lebte Timothy Treadwell jeden Sommer unter wilden Grizzlybären in Alaska. Er betrachtete sich selbst als Beschützer der Tiere und die Bären selbst als seine Freunde - bis er im Herbst 2003 von einem getötet und gefressen wurde. Seine letzten sechs Sommer hatte Treadwell mit Videokameras auf rund 100 Stunden Film festgehalten. Kein Wunder, dass Werner Herzog - immerhin erfahren mit Filmaufnahmen exzentrischer Leute in wilder Natur - sich dieses Material sofort gekrallt und in eine Dokumentation verwandelt hat. Herausgekommen ist ein wahrhaft außergewöhnlicher Film, der ohne Frage zu den besten Veröffentlichungen dieses Jahres zählt.
Dabei war gar nicht mal klar, ob "Grizzly Man" überhaupt hier in Deutschland erscheinen würde, schließlich fand sich noch anderthalb Jahre nach Erscheinen des Films in den USA auch bei überwältigendem Kritikerlob kein Verleih im Heimatland des Regisseurs. So kommt "Grizzly Man" jetzt nur ins DVD-Regal anstatt ins Kino - eine Schande, lassen die atemberaubenden Naturaufnahmen des Films Ang Lees "Brokeback Mountain" manchmal aussehen wie einen Streifen von David Fincher.
Aber immerhin ist er jetzt erschienen, allein dafür sollte man dankbar sein - denn so eine Figur wie Timothy Treadwell wird man wahrscheinlich nirgendwo sonst erblicken. Kein Drehbuch aus Hollywood könnte sich so einen Charakter ausdenken, wie Treadwell es war. In seinen Videos sehen wir ihn zehn Meter von seinen geliebten Grizzlys entfernt sitzen und auf sie wie im Dialog einreden, ihnen Namen wie Mr. Chocolate gebend, während die gefährlichen Raubtiere im Hintergrund unbeeindruckt ihrem Tagwerk nachgehen. Treadwell liebte diese Tiere, er liebte sie, er liebte sie, er liebte sie und laut der einhelligen Meinung seiner Freunde und Angehörigen wollte er selbst wahrscheinlich ein Bär sein. Er beweint tote Bären, die von ihren Artgenossen gefressen wurden, er schwimmt mit ihnen im See, er fasst ihren Kot an und freut sich darüber, dass dieser gerade noch in einem seiner geliebten Tiere drin war - "Alles an ihnen ist perfekt!" Timothy Treadwell steht ohne Frage mental auf der Kippe - und wie einfach wäre es für einen schlechteren Regisseur als Herzog gewesen, ihn 100 Minuten lang einfach vorzuführen, zu zeigen, wie durchgeknallt dieser Typ eigentlich war.
Herzog fühlt sich dagegen in Treadwells Charakter ein, möchte ihn näher kennen lernen, ihn möglichst als denjenigen darstellen, der er war. In "Grizzly Man" zeigt er dann letztendlich ein sehr differenziertes Porträt des Mannes, stellt vorsichtige Thesen auf, die er durch Angehörige und Treadwell selbst zu untermauern sucht - und dabei wird niemand vorgeführt. So wird der Grizzly Man als ein Mann vorgestellt, der vor seinem Dämon Alkohol in die Natur flüchtete und dort sein Glück fand, als ein Mann, der sich selbst ein Ziel und einen Traum setzte und - trotz des brutalen Endes - dort starb, wo und wie er wollte. Man merkt dem Film deutlich an, dass Herzog einen tiefen Respekt vor Treadwell entwickelt und ihn ernst nimmt, auch wenn er als Erzähler gelegentlich nicht mit dessen Ansichten über das Leben in der Natur übereinstimmt. Am deutlichsten wird dieser Respekt in einer der besten Szenen: Es existiert ein Audiotape der tödlichen Grizzlyattacke, aufgenommen von Treadwells Kamera. Doch anstatt es dem Zuschauer in billiger Effekthascherei vorzuspielen, hört sich Herzog die Kassette mit Kopfhörern und dem Rücken zur Kamera, in Gegenwart von Treadwells Ex-Freundin Jewel an. Alles, was wir mitbekommen, sind die Spiegelungen der erschütterten Emotionen Herzogs im Gesichte Jewels, der der Inhalt des Tapes unbekannt ist, dann das Zittern und das Brechen der Stimme des alten Mannes - immerhin derjenige, der seinerzeit das Kinski gebändigt hat. "Jewel, das dürfen Sie sich niemals anhören!", sagt er und rät ihr, das Band zu vernichten.
Emotional funktioniert "Grizzly Man" mehr wie ein Spielfilm denn wie eine Dokumentation. Es gibt Momente von unbeschreiblicher Schönheit, etwa wenn sich Treadwell von einigen wilden Füchsen durch das Gebüsch jagen lässt. Seine exzentrischen Eskapaden sorgen für Lachen, sein tragisches Ende für Tränen beim Zuschauer. Man identifizert sich mit dieser einsamen Figur in der Wildnis, die Selbstgespräche führt, beichtet, flucht, ihre Freude und Trauer wild herausschreit - und gleichzeitig nimmt man Abstand von ihrer Naivität, ihrer Weltfremdheit, ihrer Egozentrik. Eine Figur wie Treadwell zeigt uns letztendlich, dass wir uns als Zivilisation dauerhaft aus dem natürlichen Gefüge entfernt haben - jeder Versuch von uns, in dieses Gefüge zurückzukehren, kann nur schiefgehen, denn es ist nicht mehr unsere Welt. Eine simplere Welt vielleicht, aber, wie Herzog treffend bemerkt, auch eine Welt des Chaos und der Gewalt, während wir zu jedem Zeitpunkt bestrebt sind, Ordnung in unser Leben zu bringen. Mensch und Natur sind unvereinbar geworden.
"Grizzly Man" ist dieses Jahr eine unbedingte Empfehlung für jeden, der Kino oder Film zu seinen Hobbys zählt. Eine derartig außergewöhnliche Dokumentation, einen derartig außergewöhnlichen Film findet man derzeit nirgendwo sonst.
Gemäß der Schwierigkeiten, einen Verleih zu finden, sieht dann jedoch die DVD aus. Es gibt lediglich zwei Extras, den Originaltrailer und eine Trailershow mit Werbung für andere Filme aus dem Programm von Universum Film. Der einzige Mehraufwand, der für die deutsche Fassung betrieben wurde, ist die Synchronisation des Films - immerhin spricht Werner Herzog sich hier selbst, wobei man freilich selbst entscheiden muss, ob man sein schwülstiges Deutsch oder sein schwülstiges Englisch schlimmer findet.
Sowohl die englische als auch die deutsche Tonspur liegen im Dolby Digital 5.1-Format vor. Das kommt eher selten zur Geltung, ist aber solide. Vor allem die Musik hat einen guten Mix erfahren.
Das Bild ist leicht grobkörnig, aber gemessen daran, dass ein Großteil von Treadwell selbst alleine in der Wildnis aufgezeichnet wurde, schwer in Ordnung.
Eigentlich müsste das Produkt in der Gesamtwertung wegen der mangelhaften Ausstattung eine Abwertung erfahren. Aber es handelt sich hierbei leider um die einzige legale Möglichkeit, den Film in Deutschland zu sehen - und seit Jahren hat keiner die Höchstwertung so sehr verdient wie "Grizzly Man".