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 Nirgendwo und überall zu Haus

Gespräche mit Überlebenden des Holocaust


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Bildqualität
Preis - Leistungs - Verhältnis


Filme, Ausstellungen, Reportagen, zahlreiche Bücher und vieles mehr: Der Holocaust, der schrecklichste Genozid der Geschichte, ist in den deutschen Medien seit vielen Jahren stets präsent. Aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchten sie den Leidensweg der Juden im Dritten Reich.
Der Juden?
Dieses Buch umfasst 24 Interviews mit so genannten Holocaust-Überlebenden, und sie zeigen auf, dass es "die Juden" nicht gibt und nie gegeben hat. Die in den Interviews erarbeiteten Biografien reihen sich aneinander wie vielfarbige Edelsteine an einer Kette, jede ist so einzigartig wie die Persönlichkeit, zu der sie gehört, und doch wurden diese höchst unterschiedlichen Menschen aufgrund ihrer Herkunft in eine Schublade gepackt und als Todfeinde der Deutschen gebrandmarkt.
Alle im Buch Porträtierten sind heute in den Staaten, in denen sie mittlerweile leben, bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, zumeist im politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Bereich oder auch als Autoren beziehungsweise Journalisten. Da jedes einzelne Interview auf seine Weise erschütternd und bestürzend ist und tief beeindruckt, kann man eigentlich nicht gut Einzelne herausheben. Dennoch seien einige beispielhaft und zufällig ausgewählt genannt: Imre Kertész, der als Jugendlicher aus Budapest verschleppt wurde und die Welt des Lagers in seinem Roman "Die Schicksallosen" widerspiegelte, Edgar Hilsenrath, ein weiterer jüdisch-deutscher Autor, der seine Ghetto-Erfahrungen literarisch aufarbeitete, die Pragerin Lenka Reinerová, die in den Nachkriegsjahren als Jüdin in der kommunistischen Tschechoslowakei schikaniert wurde, die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, die im Orchester von Alma Rosé Auschwitz überlebte, Elie Wiesel, amerikanischer Publizist und Friedensnobelpreisträger, dem es darum geht, die Angehörigen der nächsten Generation durch das Anhören von Zeugen selbst zu Zeugen zu machen, und der Historiker Arno Lustiger, dem es wie vielen Holocaust-Opfern schwer fällt, selbst mit seiner Tochter seine Erinnerungen zu teilen.
Allen Porträtierten ist gemein, dass sie sich intensiv mit Deutschland und den Deutschen auseinander gesetzt haben. Ihre Familien waren eng mit der deutschen Kultur und Sprache verbunden, sie konnten es nicht fassen, dass sie plötzlich unerwünscht sein sollten. Heute leben manche von ihnen ohne negative Gefühle in Deutschland, andere bemühen sich vom Ausland her um Versöhnung ihrer Wahlheimat mit Deutschland, wieder andere tun sich schwer, das Land auch nur zu bereisen, in dem ihre gesamte Familie grausam ermordet wurde. Unter diesen Letztgenannten findet man bemerkenswerterweise einige, die in deutschen Schulen der Jugend ihre Erfahrungen, ihre schreckliche Geschichte schildern und so versuchen, das Grauen des Holocaust ganz unmittelbar zu vermitteln, eindringlicher, als es jeglicher Geschichtsunterricht kann.

Die Journalisten haben sich ihren jüdischen Interviewpartnern so sensibel angenähert wie irgend möglich, doch es gelingt ihnen, sehr intensive und faszinierende Gespräche aufzubauen. Erstaunlich offen äußern sich hier Menschen, denen man ihre Familien, ihre Würde, ihre Heimat, oftmals auch die Möglichkeit zur Ausbildung genommen hat, und die jeder auf seine Weise ihre traumatischen Erlebnisse aufgearbeitet haben. Umso mehr Würde strahlen sie heute aus, sowohl durch ihre Worte als auch auf den wunderbaren, ausdrucksvollen Fotos von Monika Zucht; von jedem vorgestellten Menschen findet man ein Porträt und ein Foto von ihm in seinem Umfeld, bei einer vertrauten Beschäftigung. Den Augen vieler sieht man an, dass sie die Hölle gesehen haben. Es erstaunt, dass unter diesen Umständen fast alle eine intensive Anhänglichkeit an die deutsche Kultur bewahrt haben und versöhnliche Worte für die Deutschen finden, wenngleich sie sich, was auch für die heutigen nichtjüdischen Deutschen selbstverständlich sein sollte - muss -, natürlich wider das Vergessen wenden.
Dieses Buch leistet hierzu einen überaus wertvollen Beitrag: Es vermag aufzuzeigen, dass die Diskriminierung pauschal erfasster Gruppen nicht nur moralisch falsch, sondern wahrhaftig dumm ist, denn Schubladendenken entspringt dem Bedürfnis, sich nicht mit Einzelnen auseinander zu setzen und vielleicht erkennen zu müssen, dass diese so gar nicht den auf sie projizierten Vorurteilen entsprechen.
Vor allem aber porträtiert das Buch wirklich große Charaktere, die Botschaften von bleibender Bedeutung vermitteln.

Der nicht gerade geringe Preis ist angesichts der hohen Qualität des Buchs, auch bezüglich der Bilder und der gesamten Aufmachung, angemessen, vermutlich - und bedauerlicherweise - jedoch zu hoch für Jugendliche und junge Erwachsene, obwohl es gerade ihnen einen auf einmalige Weise direkten Zugang zum Holocaust gewähren könnte: Vielleicht wäre es ja ein Geschenk für "Geschichtsmuffel"?


Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 01. August 2006 | ISBN: 3421042071 | Preis: 39,90 Euro | 262 Seiten | Sprache: Deutsch

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