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 Hegels Seele oder die Kühe von Wisconsin

Nachdenken über Musik


Cover
Gesamt +++--
Anspruch
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis


Die Musik solle die Seele erheben, meinte Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik.
Eine Studie der Universität von Michigan ergab, dass bei Kühen, die symphonische Musik hören, die Milchproduktion um 7,5 Prozent ansteigt.
Diese beiden Aussagen stehen am Beginn des Buchs, in dem es um die Bedeutung der "ernsten" Musik geht: der so genannten Klassik und der "neuen" Musik.
Die "Klassik", so der Autor, benötigt eine freie, zeitgemäße Interpretation, um zu überleben. Ihre Grenzen müssen durch Sprengung der Form überwunden werden. Stattdessen wird sie durch falsche Nostalgie mumifiziert; Musiker wie Konzertbesucher fordern originalgetreue Aufführungen. Diese sind jedoch gar nicht möglich, weil sich beispielsweise der Instrumentenbau völlig verändert hat; ein moderner Flügel liefert einen ganz anderen Klang als ein Hammerklavier aus Beethovens Zeit. Durch ein reaktionäres Publikum, das für sich beansprucht, die Elite des Geistes und Geschmacks zu sein, wird eine Anpassung der Interpretation ernster Musik an moderne Gegebenheiten verhindert. Dabei haben zum Beispiel Jazz oder Rock keine geringere Existenzberechtigung als etwa Puccini.
Aber auch die "neue" Musik bietet keine Lösung. Sie wurde dem Autor zufolge dem Publikum mit geradezu terroristischen Mitteln aufgenötigt. Losgelöst von Formen, die sich dem Ohr erschließen, dafür eingebettet in Gesetzmäßigkeiten, die jeder Komponist für sich selbst erdacht hat, sind sie für das Konzertpublikum unverständlich. Dieses scheinbare "Defizit" bereitet dem Konzertbesucher Gewissensbisse und ein Gefühl der Unzulänglichkeit, weshalb er sich genötigt sieht, durch weitere Beschäftigung mit dieser Musik seinem Verständnis auf die Sprünge zu helfen. Da eine derart sonderbare Rechtfertigung der eigenen Existenz durch die "neue" Musik nicht gerade Beliebtheit auslöst, finden wirklich interessante Komponisten wie Philip Glass oder John Adams nicht die Resonanz, die sie eigentlich verdienten.

Im Nachwort untersucht Carlo Boccadoro, ob sich sieben Jahre nach Erscheinen des Buchs in Italien etwas an der Sachlage geändert hat, und kommt zu dem Schluss, dass die "neue" Musik mehr Anhänger gefunden habe, das alternde "Klassik"-Publikum freilich unverändert elitär und reaktionär daherkomme.
Italien ist nicht Deutschland. In Deutschland werden "klassische" Konzerte und Opern auch gern von jüngeren Menschen besucht, denen man nicht unbedingt eine reaktionäre, rückwärts gewandte Gesinnung vorwerfen kann, falls ein solcher Vorwurf überhaupt berechtigt ist. Aber der Autor möchte provozieren, und das ist ja auch legitim. Natürlich hat er insofern Recht, als selbst die "originalgetreuste" Interpretation einer Beethoven-Sinfonie oder -Klaviersonate mit dem Original aufgrund der neuen Klangmöglichkeiten nur noch die Noten gemein hat und das "Gefühl", das vom Interpreten eingefordert wird, ein nichts sagender Begriff ist. Über viele andere Behauptungen des Autors lässt sich streiten, was ihm eigentlich bewusst sein müsste, doch er räumt die Möglichkeit zur Kontroverse nicht ein, obwohl er seinen Standpunkt häufig nicht begründet. Der Laie als Leser - und vermutlich nicht nur er - benötigt jedoch Erläuterungen und eine Darstellung des gegensätzlichen Standpunkts, um sich eine Meinung bilden zu können. Auch seine eigenen Ideen hätte der Autor detaillierter erläutern können: Wenn er fordert, dass die Strukturen beethovenscher Musik aufgebrochen werden müssten, damit Neues Eingang finden kann, sollte er auch beschreiben, wie genau er sich das denkt, denn eine ihrer klaren Strukturen beraubte Beethoven-Sinfonie kann sich ein Laie und "Klassik"-Freund beim besten Willen nicht gut vorstellen. Was hier fehlt, wird durch einen etwas ausschweifenden Stil ausgeglichen.
Gehört der Leser der heftig angegriffenen Klientel "klassischer" Konzerte und Opern oder aber dem kleinen Kreis der aufrichtigen Freunde "neuer" Musik an, so wird er sich vermutlich nicht dem Essay anfreunden können, auch wenn dieser, wie erwähnt, eine Reihe interessanter und wichtiger Anregungen enthält, die dem Musikverständnis förderlich sind, und schon deshalb durchaus lesenswert ist.

Regina Károlyi



Taschenbuch | Erschienen: 01. September 2006 | ISBN: 3423134909 | Originaltitel: L’anima di Hegel e le mucche del Wisconsin | Preis: 9,50 Euro | 126 Seiten | Sprache: Deutsch

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