Media-Mania.de

 Essen und Trinken im Mittelalter


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Bildqualität
Preis - Leistungs - Verhältnis


Mit dem Essen und Trinken im "Deutschland" des Mittelalters verbinden wir vorwiegend fröhliche Gelage mit rustikal, aber üppig gedeckten Tischen und ausufernder Zecherei - sowie das Ideal einer natürlichen und somit ausgewogenen Ernährung.
Dass solche Klischees allenfalls auf wenige Privilegierte und kurze Zeitspannen innerhalb des Mittelalters zutreffen, weist der Autor des vorliegenden Buchs nach: Sowohl bezüglich der Qualität als auch der Quantität der Nahrung war diese Epoche eine Zeit des Mangels, Hunger gehörte zum Alltag, gegessen wurden überwiegend hartes, grobes Brot und ungewürzter, wässriger Haferbrei, als Getränke dienten schwacher, nach heutigen Begriffen nicht eben hochwertiger und dazu häufig mit gesundheitsschädlichen Zutaten gepanschter Wein und dünnes Bier. Es fehlte an Protein, Vitaminen und ganz allgemein an Kalorien, weshalb das fettere Schweinefleisch wesentlich teurer war als das weniger energiereiche Rindfleisch.
Diese desillusionierende Zusammenfassung mag den Anschein erwecken, ein Buch über das Essen und Trinken im Mittelalter müsse so fad sein wie der erwähnte Haferbrei, aber weit gefehlt: Gerade aufgrund der Tatsache, dass die mittelalterlichen Jahrhunderte vom Mangel an praktisch allen Nährstoffen geprägt waren, setzte zu dieser Zeit der Fernhandel mit Lebensmitteln und Schlachttieren ein. Der Autor vollzieht schlüssig nach, wie beispielsweise der Salzhandel, einschließlich der aufwändigen Salzgewinnung, nicht nur zahllose der ansonsten raren Arbeitsplätze schuf, sondern auch die Infrastruktur förderte, ernsthafte ökologische Probleme hervorrief (Holzverbrauch!), die Gesellschaft veränderte und die Macht innerhalb des Reichs verschob.
Das Buch besteht aus drei Teilen: "Das Essen", "Das Trinken" und "Essen und Trinken in den Lebensordnungen". Die beiden ersten Teile befassen sich vor allem mit der Herstellung von mittelalterlichen Grundnahrungsmitteln im Laufe der Zeit, mit ihrer Vermarktung und den damit verknüpften Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft sowie den Regeln und Vorschriften, denen Produktion, Verkauf und Erwerb unterworfen waren. Diese Wechselwirkungen sollten nicht unterschätzt werden, gilt doch der Siegeszug des Herings in seiner Funktion als billiger und leidlich schmackhafter Proteinlieferant als Basis der Wirtschaftsmacht zunächst der Hanse und dann der Holländer, und dieser Siegeszug wäre ohne die florierende Salzgewinnung und den -fernhandel nicht möglich gewesen.
Der dritte Teil, eine Kulturgeschichte des Nahrungskonsums, vermittelt einen Eindruck davon, welchen Sinn höfische Sitten hatten und wie sie allmählich auch die Tafel des kleinen Mannes erreichten, bis sie wiederum von allfälligen Neuerungen abgelöst wurden und schließlich in die Tischsitten des modernen, aufgeklärten Europas mündeten.

Essen und Trinken als Triebfeder von Politik, Wirtschaft und Kultur eines ganzen Kontinents? Nach der Lektüre des Buchs lässt sich der Zusammenhang zwischen diesen Faktoren der Geschichte nicht von der Hand weisen. Knappe Ressourcen haben immer Entwicklungen, vor allem Produkttransfers, angestoßen, und das Mittelalter war in der Tat eine Epoche des Mangels.
Das Buch ist klar und logisch gegliedert und besteht aus übersichtlichen Kapiteln. Der Autor legt Fakten und Interpretationen knapp, doch ausreichend flüssig dar; seine gelegentlichen Entschuldigungen für möglicherweise langweilige Passagen wirken ein wenig wie "Koketterie", weil der Text an keiner Stelle langatmig oder gar uninteressant ist, sofern sich der Leser für Mediävistik und Kulturgeschichte interessiert. Vor allem handelt es sich um das wohl umfassendste Buch zu diesem Thema, insbesondere bezüglich der Orientierung auch an der Ernährung und der Nahrungsmittelproduktion des "kleinen Mannes", die sich gründlich von jener des Adels, des aufkommenden Bürgertums und des Klerus unterschied. Die sehr fundierte Ausführung der genannten, für die mittelalterliche Wirtschaft unerlässlichen Verflechtungen zwischen bäuerlicher oder handwerklicher Produktion und Grundbedarf, Handel, wirtschaftlichen Prozessen und Beeinflussung der Politik, bezogen auf die unterschiedlichsten Nahrungsmittel, liefert eine völlig neue Sicht der Geschichte. Der Autor verzichtet als guter Historiker weitestgehend auf Spekulation, was auch die 120 Seiten mit vielseitigen Anmerkungen und Quellen- beziehungsweise Literaturangaben beweisen.
Viele Abbildungen von mittelalterlichen Stichen, Zeichnungen, Bildern und Miniaturen zum jeweiligen Thema lockern den Text auf und vermitteln zugleich interessante Einblicke in Arbeitsleben, Tischkultur und sonstige Sitten.
Wer aufgrund des Titels ein mittelalterliches Kochbuch erwartet hat, wird natürlich bitter enttäuscht sein, doch der Autor hat zweifelsfrei Recht, wenn er derartige Experimente zumindest in authentischer Form nicht empfiehlt. Leser, die das Mittelalter und die beginnende Neuzeit aus einem recht ungewohnten Blickwinkel verstehen möchten, werden an diesem hochinteressanten und attraktiven Buch viel Freude haben.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 01. Oktober 2006 | ISBN: 3896785788 | Preis: 39,90 Euro | 440 Seiten | Sprache: Deutsch

Werbung

Dieser Artikel könnte interessant sein:

Zu "Essen und Trinken im Mittelalter" auf Amazon

Hinweis: Als Amazon-Partner verdiene ich an qualifizierten Käufen.



Ähnliche Titel
Mit Kompass und KorsettVon Kaffeeriechern, Abtrittanbietern und FischbeinreißernGeschichte der Welt 1870-1945Sprengt die KettenGeschichte der Türkei