Vor einigen tausend Jahren kamen die Bewohner des Zweistromlands auf eine glorreiche Idee: Sie bauten in einer Stadt einen riesigen Turm, der bis in den Himmel ragte. Das allerdings sah Gott der Allmächtige äußerst ungern - er fürchtete um seine himmliche Exklusivität und verwirrte die Sprache der dreisten Turmbauer, damit sie sich nicht mehr miteinander verständigen konnten. Sie zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen, der Turm verfiel, und die Menschheit sprach fortan verschiedene Sprachen. So erzählt es zumindest die Bibel; und wenn auch die heutige Sprachwissenschaft eine etwas andere Vorstellung von der Entwicklung der Sprachen hat, steckt doch ein wahrer Kern in dieser alten mythologischen Erzählung (nachzulesen übrigens im Buch Genesis). Denn tatsächlich war das Alte Mesopotamien vor dreitausend Jahren ein Hort der Sprachverwirrung. In und um die Stadt Babel wurde sumerisch und akkadisch, hethitisch und hattisch, hurritisch und urartäisch gebeten und gesungen, geflucht und gewitzelt. Viel ist von diesen alten Sprachen nicht erhalten geblieben. Doch die gewaltigen Fortschritte der Sprachforschung ermöglichen es, aus den Überresten alter Steintafeln, aus Wortfragmenten nachfolgender Sprachen und aus einigen antiken Schriften viele dieser Sprachen erstaunlich gut zu rekonstruieren ... was freilich ein Feld für wenige Eingeweihte ist.
Wer sich als Fachfremder für diese alten Sprachen interessiert, hat nun die Gelegenheit, an den Forschungsergebnissen der letzten Jahrzehnte teilzuhaben. Der Altorientalist Michael Streck hat ein schmales Büchlein herausgebracht, in dem die wichtigsten Sprachen des Zweistromlands vorgestellt werden. Altlinguisten und Altorientalisten wie Elisabeth Rieken, Gábor Zólyomi, Jörg Klinger, Manfred Krebernk und Joost Hazenbos führen in Lautlehre, Sprachgeschichte, Morphologie und Syntax der verschiedenen Sprachen ein, freilich nur soweit, wie es die Forschungsergebnise zulassen. Denn während etwa das Elamitisch relativ gut erforscht werden kann, sieht das beim Hurritischen vollkommen anders aus. Natürlich kann das schmale Buch mit knapp über 180 Seiten nur eine Einführung in die sprachlichen Strukturen und die oft ungesicherte Forschung geben. Doch die Wissenschaftler haben sich sichtlich bemüht, durch die Beschränkung auf das Wesentliche, und durch lebendige Einführungstexte auch den Neuling anzusprechen.
Allerdings: ein wenig linguistisches Vorwissen sollte man definitiv haben, wenn man sich an dieses Buch wagt. Die Aufsatzsammlung richtet sich dabei vor allem an Althistoriker, Orientalisten und Linguisten, die sich für die Anfänge der menschlichen Sprache interessieren. Aber auch Studenten und Wissenschaftler aus Nachbardisziplinen dürften Gewinn aus der Lektüre ziehen, da die Mischung aus Einführungsbuch und Bibliographie durchweg überzeugt. Ein originelles Fachbuch, bislang einzigartig auf dem Buchmarkt und für fortgeschrittene Linguisten und Althistoriker eine klare Bereicherung.