Ein Lieblingsthema des deutschen Feuilletons ist ja das angebliche Schweigen der Literatur über die Vertreibungen der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Anlässlich des jüngsten Romans von Günther Grass, "Im Krebsgang", wurde landauf, landab das "Ende des Schweigens" gefeiert, Grass für seine Themenwahl gelobt und der deutschen Autorenschaft insgesamt vorgeworfen, sich viel zu wenig mit "deutschem Leid" auseinandergesetzt zu haben, da dieses tabuisiert sei.
Das alles ist natürlich nicht mehr als eine Feuilletonblase, die man leicht zum Platzen bringt, wenn man etwa auf Christa Wolf ("Kindheitsmuster") oder GrassÂ’ sehr viel älteren Roman "Die Blechtrommel" verweist. Auch die Gegenwartsliteratur ist nicht arm an Romanen zur Vertreibung: Walter Kempowski hat erst vor kurzem den dicken Roman "Alles umsonst" herausgebracht, Hans-Ulrich Treichel seine Erzählung "Der Verlorene", und sogar die Enkelgeneration ist mit Tanja Dückers und ihrem Buch "Himmelskörper" vertreten.
Den wichtigsten Beitrag hat allerdings wieder einmal der ostdeutsche Autor Reinhard Jirgl abgeliefert. In "Die Unvollendeten" schildert Jirgl die Vertreibung von drei Frauen aus dem Sudetenland; die bereits siebzigjährige Johanna und ihre Töchter Hanna und Maria, die nach dem Krieg mit nur wenigen Habseligkeiten fliehen müssen, sich an einem ihnen fremden Ort in der späteren DDR niederlassen und den Verlust ihrer Heimat ein Leben lang mit sich herumtragen, so wie ein unsichtbares Zeichen, ein Signum des Todes und der Vergänglichkeit. Jirgl spannt dabei einen erzählerischen Bogen, der über mehrere Generationen bis in unser Jahrtausend reicht, der schonungslos von der Zeit nach 1945 berichtet und dabei auch die Geschichte
vor 1945 nicht ausspart. Schuld und Scham, das direkte Ineinandergreifen von mörderischem Vernichtungskrieg - den nicht wenige Sudetendeutsche tatkräftig mittrugen - und deutscher Vertreibung, die mit großer Härte einherging, und immer wieder das Panorama einer zerrissenen und sich selbst zerreissenden Nation, die weder das Trauma der eigenen Schuld noch das Trauma der Vertreibung verarbeitet hat: All dies stellt Jirgl mitleidslos, ohne falschen Pathos dar, in seiner ganz eigenen, gehetzten Sprache, die er mit Zeichen-, Wort- und Schriftverfremdungungen zerhackt und die sich schon optisch jeder vereinfachenden Deutung verweigert. Ein unbequemer und - jirgltypisch - unglaublich düsterer Roman, der sich gegen jede Vereinnahmung sperrt, der sowohl Apologetiker als auch Feuilletonisten eher verwirren denn befriedigen dürfte.
Für Einsteiger in Jirgls Werk ist "Die Unvollendeten" durch seine starke Verdichtung auf knapp 250 Seiten nur bedingt geeignet. Wer allerdings keine Scheu vor einem der wichtigsten und sperrigsten Gegenwartsautoren hat, sollte sich unbedingt davon überzeugen, dass man auch in der deutschen Literatur über die Vertreibung der Deutschen erzählen kann, ohne in Kitsch oder nationalem Weltschmerz zu verfallen.