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"Wenn du nicht brav bist, dann kommst du ins Heim!" - Dieser Spruch aus tiefschwärzester Pädagogik war bis in die siebziger Jahre hinein durchaus verbreitet - auch heute sollen solche Sprüche noch in manchen Familien zu hören sein. Aber früher war das auch eine unglaubliche Drohung, denn die Heime, besonders die unter kirchlicher Leitung, waren viel schlimmer als die Trennung von den Eltern und der gewohnten Umgebung. In diesen Heimen wurde systematisch gequält, geprügelt und missbraucht - und heute kann sich niemand in verantwortlicher Position mehr erinnern.
Peter Wensierski ist Journalist und Filmemacher für den Spiegel und Spiegel TV. Als man sich in Irland aufgrund des Films "Die unbarmherzigen Schwestern" an das Leid der Heimkinder zurückerinnerte, kam Gisela Nurthen, die eine schreckliche Heimkarriere hinter sich hatte und noch heute darunter leidet, auf Wensierski zu und der begann zu recherchieren. Mit ihr und ihrer Geschichte beginnt das Buch auch. Gisela Nurthen ist ein Schlüsselkind und steht auf Elvis; letztlich reichen das und ein paar Kleinigkeiten, die heute niemanden mehr interessieren würden, um in den späten fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts ihrer allein erziehenden Mutter weggenommen zu werden. In einem katholischen Mädchenheim beginnt ein wahrhaftiges Martyrium. Die Schwestern schlagen und demütigen sie, sperren sie ein. Erbricht sie das minderwertige Essen, so wird sie gezwungen, das Erbrochene aufzuessen. Für ein Lied, das sie im Schlafraum singt, muss sie für Tage in eine winzige Isolierkammer.
Im zweiten Kapitel gibt Wensierski einen großen Überblick über die Geschichte der Heimerziehung in Deutschland und zeigt auf, dass es eine klare Kontinuität vom Dritten Reich in die Bundesrepublik hinein gab. Manche Heime, in denen zig Kinder im Euthanasiewahn starben, wurden nach dem Krieg mit fast unverändertem Personal weiter betrieben - und mit den gleichen Erziehungsgrundsätzen.
So weiß Wensierski noch von vielen weiteren Schicksalen zu berichten. Von Bettnässerkindern, die ihr besudeltes Laken durch das Heim tragen mussten, oder einen Schweineschwanz und ein Schild: "Ich bin das größte Schwein im ganzen Heim". Von Kindern, die auf einem Schlüsselbund knieend beten sollten, und anderen, die einen Schlüsselbund in den Rücken bekamen. Von einem Jungen, dessen fünfjährige Schwester unter mysteriösen Umständen im Heim umkam, von einem Schlauch, mit dem Kinder bis in den Oktober hinein im Hof eines Heims kalt abgespritzt wurden, und der auch der Züchtigung diente.
Das Ende der Heime kommt am Anfang der siebziger Jahre. Und ausgerechnet Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof - die spätere erste Generation der RAF - sind es, die diesen Stimmungswandel herbeiführen. Sie befreien in spektakulären Aktionen Heiminsassen und bringen deren Schicksale in die Öffentlichkeit. Da sie aber bald darauf in die Illegalität verschwinden, gibt es zwar eine Revolution in den Heimen, aber die Geschichte wird nicht aufgearbeitet, eine ernsthafte Entschuldigung oder gar Entschädigungen für die oft in Zwangsarbeit für die kirchlichen Institutionen schuftenden Heiminsassen gibt es nicht - und das gilt auch heute noch so. Wensierski ist mit ehemaligen Heimkindern an die Orte ihrer Folter gereist, hat versucht, die damaligen Täter zu konfrontieren, Akten einzusehen - aber fast durchgängig wird gemauert, die alten Diakonissen und Schwestern abgeschirmt und "geschont".
Peter Wensierski hat ein beeindruckendes Buch geschrieben, ein Buch, dessen wahre Geschichten tief berühren, heftig anekeln und empören. Immer gut geschrieben und verständlich, wie beim Spiegel gewohnt klingt das immer sehr gut recherchiert, und so oft man nicht glauben kann, dass Menschen diese Sachen mit Kindern gemacht haben, so oft erinnert Wensierskis sachliche Sprache daran, dass hier nichts aufgebauscht wird.
Ein beeindruckendes Buch, für Betroffene sicherlich ein schmerzhaftes und heilsames Buch, ein empörendes Buch, ein schockierendes Buch - sehr empfehlenswert.