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Die als Doppelband erscheinende Zeitschrift für Kritische Theorie wird seit 1993 veröffentlicht. Dieser 18./19. Band ist in drei große Abschnitte gegliedert: 1) Kritische Theorie im Dialog, 2) Walter Benjamin, die Mode und die Bilder, 3) Adornos Aktualität.
Ich werde nicht alle sechzehn Artikel dieses Bandes würdigen können und konzentriere mich hier auf diejenigen Artikel, die mir besonders gut gefallen haben.
Peter-Erwin Jansen stellt facettenreich den Briefwechsel zwischen Marcuse und Dutschke vor. Diese konturieren sowohl die beiden Personen gegeneinander als auch ihre jeweilige Stellung im politischen Geschehen. Insgesamt macht der Artikel sehr neugierig, mehr über das Verhältnis dieser beiden wichtigen politischen "Randfiguren" zu lesen.
Marcus Hawel rollt am Beispiel des "Begriffs" das Theorie-Praxis-Verhältnis bei Adorno auf. Zwar ist auch dieser Artikel exemplarisch, zielt jedoch sehr genau (und sehr lesbar) auf das Problem mit Begriffen, so wie Adorno dies gesehen hat. Vergleicht man dagegen den Artikel von Tobias Bevc über die Sprachauffassung bei Cassirer und Adorno, so kann Hawel sehr deutlich die Konturen ausarbeiten, während Bevc unklar in der Durchführung und schließlich auch unschlüssig in den Folgerungen bleibt.
Über Nietzsche steuert Kenichi Mishima einen sehr faszinierenden Artikel bei: Dieser befasst sich mit den Phänomenen der Transkulturalität und der Hybridität bei Nietzsche. Auch wenn ich Nietzsche anders lesen würde, ist dieser Artikel sehr anregend, und von den Beiträgen zum ersten Teil des Bandes der am breitesten gefasste und fundierteste.
Im zweiten Abschnitt sind besonders der Artikel von Sven Kramer über Walter Benjamin und Peter Weiss sowie der Artikel von Georg Otte über Zitieren und Antizipieren hervorzuheben.
Sven Kramer arbeitet Unterschiede zwischen der Schrift-Bild-Konstellation in Weiss Ästhetik des Widerstandes und in dem (späten) Werk Benjamins heraus, um dann festzustellen, dass sich beide auf einer bestimmten Ebene treffen: Stillstellung hier und Verflüssigung dort liegen nicht so weit auseinander.
Otte unternimmt - noch einmal, so muss man sagen - eine Darstellung von Benjamins Nachdenken über Geschichte und Bild. Obwohl der Artikel nichts Neues zu der mittlerweile umfangreichen Literatur beifügen kann, bietet er eine gute und knappe Einführung in diesen zentralen Aspekt von Benjamins Werk.
Im dritten Teil antwortet Michael Hirsch auf den Artikel von Otte, wenn auch nur implizit: Benjamins politisches Engagement, seine theoretischen Überlegungen ebenso wie seine praktische Tätigkeit, werden der von Adorno gegenübergestellt. Dabei diagnostiziert Hirsch - mit Adorno - eine gefährliche Vermischung von Mystik und Politik bei Benjamin und stellt diesen Überlegungen von Adorno entgegen.
Sehr schön und in einem sehr persönlichen Ton gehalten ist das Interview mit Jochen Hörisch, in dem Hörisch und Peter Kemper die Sprache Adornos beleuchten und warum diese so schwierig sein muss. Dabei stellen beide heraus, dass die Exzentrizität und die Stilisierungen in Adornos Sprache Suchbewegungen sind. Diese Suchbewegungen haben ihren Wert an sich: Sie verflüssigen das Feste und Undurchdringliche und schaffen dadurch Raum für neues, überraschendes und eigenes Denken. Wer sich mit Adornos Auffassungen von Sprache beschäftigt hat, wird hier wenig Neues finden, aber dieses gut, knapp und frech zusammengefasst.
Trotzdem gibt es auch hier Wermutstropfen. Die Kritische Theorie ist nicht immer so kritisch, wie sie sich nennt. Immer auch findet man hier Abgrenzungen, etwa vom Dekonstruktivismus oder der Systemtheorie, die fadenscheinig argumentieren. Ebenso gefallen sich manche "Frankfurter" in einem zutiefst apokalyptischen Ton: "heute ginge es nicht mehr nur um Auschwitz, sondern um das Überleben der ganzen Menschheit" (so im ersten Artikel). Gerade diese letzte Ansicht dürfte Adorno missfallen, geht es doch bei Auschwitz nicht um ökologische Risiken, sei es durch Umweltverschmutzung, sei es durch Folgen eines atomaren Krieges, sondern um die Idee einer Herrenrasse, die sich das gezielte und maschinelle Morden als legitimes Mittel zuspricht. Dieser barbarische Gedanke kann nicht durch "gut gemeinte" kriegerische Einsätze oder durch die konsumorientierte Kultur und deren katastrophale ökologische Spätfolgen relativiert werden. Insofern bleibt Auschwitz einzigartig - unkritisch dagegen dessen vermeintliche Überbietung durch atomare und ökologische Gefahren.
Hat Adorno in seinem Ton vorgegeben, wie sich mit der Sache auseinanderzusetzen sei, nämlich so, dass der aktuelle politisch-soziale Bezug aufscheint, scharf und spielerisch zugleich - in Form des Essays -, so bleiben auch hier wieder einige Artikel in ihrem Erkenntnisgewinn zurück; Adorno zu zitieren heißt eben noch nicht, der Kritischen Theorie zu folgen. Die Methode, nicht das Ergebnis: das ist es, was die Negative Dialektik so prägnant macht. Vor allem der erste Artikel - von Gunzelin Schmid Noerr - ist ärgerlich diffus; der Artikel von Andreas Gruschka überdreht und - mit Adorno gesprochen - kitschig.
Insgesamt kann man den Sammelband sehr empfehlen. Er hat, aber das ist ein übliches Problem bei Zeitschriften, die nur einmal im Jahr erscheinen und deren Interessensgebiet fernab der großen Periodika liegt, wenig ganz Aktuelles zu bieten. Andererseits wird hier ein sehr breites Spektrum an Auffassungen und Untersuchungen geboten. Nicht als Einführung, aber als Vertiefung und Anregung zum Nachdenken und Auseinandersetzen sind die meisten Artikel hervorragend.