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 Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Das Leben des Johann Nepomuk ist ein Kampf, "schließlich herrscht auf Erden das Faustrecht". Die Erde ist der prügelnde Vater zuhause, die Lehrer in der Schule, die das Proletarierkind des Gymnasiums für unwürdig halten, die Straße und ihre Grausamkeiten. Wenn der Stärkere Gewalt anwenden will, kann er das machen, solange er der Stärkere ist. Johann Nepomuk ist lange der Schwächere. Als er alt genug ist, beginnt er sich gegen seinen Vater zu wehren. Zuerst versucht dieser noch einmal die Gangart beziehungsweise Schlagart zu verschärfen, soweit dies eben ohne Todesfolge möglich ist. Doch schließlich geht der Vater. Und die Mutter beginnt mit Selbstmord zu drohen. Sie bringe sich um und er, Johann Nepomuk, habe sie auf dem Gewissen, er sei verantwortlich für ihr Unglück.

Das Erscheinen der "schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk" fiel zusammen mit der Unterschichten-Debatte in Deutschland 2006. Im Buch, das in den Jahren bis 1971 spielt, wird das Kind von den Lehrern als Proletarier etikettiert, heute müsste man vermutlich Prekarier sagen. Der soziale Tatbestand ist derselbe, nur haben sich die fest gefügten Schichten heute so weit aufgelöst, dass die Zuordnung ohne weiteres nicht mehr möglich ist. Schließlich leben wir heute in einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" mit Sozialstaat und so. Wozu also Armut und Elend, das will doch niemand sehen oder lesen, so schien es wenigstens bis vor kurzem.

Aber es gibt einen Ausweg, zumindest in diesem Roman: den Fußball. Johann Nepomuk ist ein Fußballtalent, ein "Rohdiamant", mit der Aussicht in der Bundesliga-Kampfmannschaft mitspielen zu dürfen. Mindestens drei Mal in der Woche trainiert er dafür. Als er auf dem Heimweg von diesem Training Zeuge einer versuchen Vergewaltigung wird, die Täter in die Flucht prügelt, lernt er Mariella kennen, die im Rollstuhl sitzt. Aus dieser Bekanntschaft ergibt sich - natürlich - eine Liebe und aus dieser Liebe ergibt sich - natürlich - ein weiterer Ausweg. Und nachdem dieser Roman weder von Paul Coelho noch von Rosamunde Pilcher ist, ist dieser Ausweg weder idyllisch noch angenehm, sondern ein anderer Kampf, nein, er besteht eigentlich nicht einmal nur in der Liebe selbst, sondern in der Kunst, in Bildern moderner Maler, die Johann Nepomuk seit langem versteckt hält, und in Gedichten aus dem Buch Esther, eine Gedichtsammlung, die Mariellas Mutter das Konzentrationslager überleben ließ. Der sozialen Wirklichkeit wird die sprachliche Schönheit entgegengesetzt: Heine, Beer-Hofmann, Eichendorff.

Doch damit geschieht noch etwas anderes. Es werden Gegensätze aufgespannt zwischen der abgehackten Stakkatoumgangssprache des Erzählers Johann Nepomuk, der von nationalsozialistischen Worthülsen durchsetzten Sprache seiner Umgebung und der poetischen Sprache und dem Klang der Gedichte. Nicht dass sich die Sprache des Romans verändern würde, aber durch Mariella und ihren Vater Robert, der beständig nach Gedichten sucht, diese abschreibt und wie das Buch Esther zu eigenen Bänden bindet, entsteht ein Gegengewicht. "Wir hatten keine Sprache, die übers unmittelbare hinausreichte. Befehle, Verbote, Aufforderungen waren wir gewohnt, und in der Schule die Fortsetzung. Wir übernahmen das wenige, ohne zu denken". Der Kahlschlag, der bereits nach dem Krieg thematisiert wurde, ist aktueller denn je. Und führt zu einer Sprache mit einer ganz eigenen poetischen, einfachen Schönheit. Selbstverständlich ist Johann Nepomuks Umfeld nicht begeistert davon, dass er sich mit Juden und verweichlichten Gedichten abgibt, aber dafür ist dann eben wieder die Liebe zu Mariella da.

Im Verlauf des Buches drängen sich die verhinderten Vergewaltiger und deren Bande zunehmend in den Vordergrund, die sich rächen wollen, denn schließlich ist das Leben ein Kampf und jeder will der Stärkere sein. Die Bande beginnt Jagd auf Johann Nepomuk zu machen, seine Mutter droht sich umzubringen, die Lehrer triezen ihn wo immer möglich und die Plätze in der "Kampfmannschaft" sind begehrt - ein oder zwei Mal nicht im Training und man ist weg vom Fenster.

All diese Fäden verweben sich zu einem kunstvollen Bild einer österreichischen Kleinstadt zu Beginn der siebziger Jahre, zu einem Gewebe aus nationalsozialistischer und poetischer Sprache, Gewalt und Liebe, Kunst und Schmerzen. Auch wenn man zu Beginn mit der Sprache hadert, sich daran stößt, einmal in diesem Netz der sprachlichen Verstümmelung verstrickt, lässt sie den Leser nicht mehr los. Ebenso wie die Handlung, die am Anfang zu glatt und zu borstig zugleich erscheint, doch zwischen diesen Polen gewinnt das Buch eine beeindruckende Vielfarbigkeit, eine Begeisterung, die den Leser angeht, ohne zu flachem Pathos zu verkommen. Und den Leser mitleiden lässt. Erwachsenwerden hat schon öfter weh getan, aber nur selten hat es so viel Freude bereitet, davon zu lesen.

Stefan Rehm



Hardcover | Erschienen: 01. September 2006 | ISBN: 9783421059574 | Preis: 19,90 Euro | 441 Seiten | Sprache: Deutsch

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