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Aharon ist sieben, als der Krieg über das beschauliche Leben der Juden in Czernowitz hereinbricht. Das Ghetto, der Mord an seiner Mutter, deren letzten Schrei der Junge nie vergisst, das Lager und die sechs Jahre nach dem Krieg, die zwischen Flucht und Ruhe pendeln, enden in Palästina. Dort gewinnt, wie bei fast allen seiner Leidensgenossen, das Schweigen die Oberhand. Nichts dringt nach Außen, alles beginnt in seinem Inneren zu Geschichte, zu Vergangenheit zu werden.
Erst mit sechsundsechzig Jahren veröffentlicht Aharon Appelfeld seine fragmentarischen Memoiren, erst da gewinnt die Sprache, die Schrift gegen das äußere Schweigen. Erinnerungsfetzen werden Realität, dringen an die Oberfläche und gerinnen zu einfachen Sätzen über eine Zeit, die seltsam gegenwärtig zu sein scheint.
Diese Memoiren sind ein Alptraum. Sie sind so real, als wäre es gestern passiert, sie sind so schmerzhaft, als wäre man dabei gewesen und würde jeden Tag aufs Neue verzweifeln über die Grausamkeiten eines Krieges, der im Inneren, in Deutschland, zwischen den Menschen, zwischen Freunden und Nachbarn, Verwandten und Brüdern tobte.
Die Zeit, die Aharon Applefeld verstreichen ließ, bis er begann die Wahrheit nieder zu schrieben, lässt seinen Bericht wahrhaftiger, ehrlicher, schreib- und wieder erlebbar werden. Erst die zeitliche Distanz, die Entfernung von sich Selbst, macht es diesem wundervollen Schriftsteller, diesem integeren, ehrlichen und gleichzeitig gnadenlosen Chronisten erst möglich, Dinge zu beschreiben, die unbeschreibbar sind.
Der Zwinger, in dem bösartige Bestien von Schäferhunden in einem der Lager darauf warteten, dass die Wärter Kinder hinein warfen, die Stille, die darauf folgte und die Geräusche, die jeder im Lager hörte, treffen das Innerste jedes fühlenden Menschen, verletzen ihn bis ins Mark.
Die Schilderungen lassen erbeben und erzittern. Aber sie eröffnen auch eine einmalige Chance: Der "Spätgeborene" kann versuchen zu begreifen, was geschehen ist. Nicht warum und wieso, sondern nur wie, wer, wann. Dies eröffnet einen Horizont, der nicht dem Vergessen anheim fallen darf. Dieses Buch ist ein völlig unprätentiöser, nicht anklagender, sondern nur beschreibender Bericht über eine Kindheit in Deutschland. In deutschen Lagern, unter den Augen von deutschen Aufsehern und Mördern.
Dieses Buch ist dennoch wunderschön, denn es eröffnet den Blick auf einen Menschen, der es trotz allem vermochte zu leben, weiter zu leben, als Mensch zu leben und Hoffnung zu empfinden. In Anbetracht der Ereignisse ist es fast unglaublich, dennoch aber tröstlich und zu Tränen rührend, dass ein Mensch seine Menschenwürde wieder erlangen kann und verzeihen kann, Liebe geben kann und Literatur erzeugen kann, die Bestand haben wird.
Aharon Applefeld ist ein grandioser Autor, gerade weil er schlicht und einfach seine Seele sprechen lässt. Sechsundsechzig Jahre später, aber nicht zu spät.