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Dieses Buch von Roland Barthes sammelt die Notizen, die Barthes sich für seine zweite Vorlesung am Collège de France gemacht hat. Dabei ist der Begriff Notizen zu kurz gefasst, handelt es sich doch weit häufiger um ausformulierte Sätze und Darstellungen als um subjektive und kryptische Kürzel. Und auch zu Barthes sonstiger Schreibweise, der "écriture courte" - der kurzen Schreibweise - zeigen die hier versammelten Texte keinen wesentlichen Kontrast.
Es handelt sich also um die typische Barthessche Schreibweise, die man hier findet, brillant in der Darstellung und oftmals ebenso rätselhaft, umfangreich belesen und ebenso scharf ausgewählt. Es geht darin um das Zusammenleben. Dazu stützt sich Barthes auf einige literarische Werke, zu denen unter anderem Robinson Crusoe und der Zauberberg gehören, und auf einen zentralen Begriff: die Idiorrhythmie. Als Idiorrhythmie bezeichnet Barthes das einsiedlerische Leben von Mönchen, das doch in gewisse Zeiten innerhalb einer Woche durch eine - meist religiöse - Geselligkeit unterbrochen wird. Einsiedlerisch und zugleich gesellig - im Wechsel eines freien Rhythmus: dies interessiert Barthes in dieser Vorlesung. Zwar geht es hier viel um Mönche, um Formen des Zusammenlebens in Klöstern, in Sanatorien, auf einsamen Inseln und so weiter, doch Barthes lässt keinen Zweifel daran, dass er diese Vorlesung nicht aus historischem Interesse hält, sondern hier auf der Suche nach einer zeitgemäßen Ethik ist, die die Spannung zwischen Individualität und Sozialität vermitteln kann.
Barthes führt eine Reihe von Figuren des Zusammenlebens vor: die Autarkie, den Schwarm, die Bürokratie, das Zimmer, die Bediensteten und so fort. Dabei sind die Figuren keine Begriffe, sondern ein - wie Barthes es nennt - "narratives Aufflackern des Begehrens". Diese Figuren seien nur eine Auswahl aus den vielen Möglichkeiten, hier Figuren zu bilden. Der Leser - und der Hörer - könnten diese beliebig aus ihrem Fundus ergänzen.
Im Anschluss an diese Vorlesung findet sich eine weitere Folge von Vorlesungen, die das "besetzte Sprechen" umkreisen. Auch hier zerstreut Barthes den Begriff in alle Winde: besetzt [tenant], das spielt sowohl auf die Pädagogik an - insofern tenant geführt heißt -, als auch auf das Militärische - der Leutnant (lieu tenant), der auf dem besetzten Ort steht. Ähnlich wie im ersten Teil die Spannung zwischen Individualität und Geselligkeit nicht zu einer guten Lösung führt, sondern zu einer Zerstreuung in Figuren, so wird hier die Spannung zwischen Unterwerfung durch das Sprechen und Vereinnahmung des Sprechens nicht zu einem guten, machtlosen Sprechen in einer gewaltfreien Gesellschaft geführt, sondern zu verschiedenen Weisen, mit dieser Spannung umzugehen.
Will man so etwas wie eine Quintessenz des Buches geben, dann wäre dies folgende: Zwischen dem hohen - und illusionären - Anspruch einer multikulturellen Gesellschaft und einer authentischen Individualität liegen zahlreiche Zwischenformen, deren Ethiken man sich behutsam annähern sollte. Barthes stellt also Modelle vor, wie man in dem Zwischenreich zwischen Einzelwesen und globalisierter Gesellschaft die Lebenskunst sich vorstellen kann.
Die Vorlesungsmitschrift wurde von Éric Marty herausgegeben und von Claude Coste einführend und sehr kenntnisreich kommentiert. Im Anschluss findet sich eine Bibliographie der von Barthes genutzten Werke und ein umfangreiches Namensregister.
Barthes ist, gerade in seinem Spätwerk, kein leicht zu verstehender Autor. So ist auch diese Vorlesungsabschrift nicht einfach zu handhaben, wenn man Barthes nicht sowieso schon kennt. Trotzdem kann er alleine durch seine Art und Weise zu schreiben, den Leser in diese Faszination für die Vielfalt und das Zusammengesetzte einführen.
Ich bekenne mich ausdrücklich dazu, ein großer Barthes-Verehrer zu sein. Deshalb kann ich dieses Buch auch nur rückhaltlos loben. Empfehlen mag ich dieses Buch deshalb ausdrücklich anderen Barthes-Verehrern, oder all jenen, die sich mit Michel Foucault oder Gilles Deleuze auskennen, nicht aber dem "nur" interessierten Publikum: zu anspruchsvoll, zu voraussetzungsreich und zu fremd schreibt Barthes hier. Es gibt andere Bücher von Barthes - "S/Z" oder "Die Körnung der Stimme" -, die zugänglicher sind, und genauso gehaltvoll.