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Die letzten Tage des Jahres 1999 sind seltsame Tage in Los Angeles: Die Menschen bereiten sich auf die große Zwei vor, Krawalle, Plünderungen und die Vorboten der Anarchie beherrschen die Straßen ebenso wie die zahllosen Sicherheitsstreitkräfte, die auch mit Panzerfahrzeugen auffahren, um der Situation Herr zu werden. Eine illegale visuelle Droge namens SQUID ist in Umlauf, ihre Konsumenten tendieren zu starker Paranoia. Rassenunruhen setzen die Polizei unter Druck - und werden noch verstärkt, als der Rapper und Bürgerrechtler Jericho One, das Sprachrohr für die schwarze Bevölkerung, eines Nachts regelrecht hingerichtet wird. Eine Stadt in Endzeitstimmung.
In diesem Hexenkessel muss der ehemalige Cop Lenny Nero sein Leben in den Griff bekommen. Zum einen ist da sein neues Betätigungsfeld: Er handelt mit SQUID. Dabei handelt es sich um Video-Clips, die mittels eines futuristischen Geräts direkt aus der Großhirnrinde des Trägers aufgenommen werden. Wer diese aufgenommenen Erinnerungen abspielt, sieht, riecht und spürt dasselbe wie der Träger, eine Erfahrung, die süchtig machen kann. Nero versucht auf aalglatte Weise, neue Kunden zu gewinnen und die Videos in Umlauf zu bringen. Die moralisch aufrechte Leibwächterin Lornette "Mace" Mason, mit ihm noch aus besseren Tagen befreundet, verurteilt sein Treiben, während der heruntergekommene Polizist Max Peltier ihn deckt.
Zum anderen ist er immer noch verliebt in die ehemalige Prostituierte Faith Justin, die er - ebenfalls in besseren Tagen - von der Straße geholt und deren Gesangstalent er entdeckt hat. Sie dankte es ihm damit, dass sie ihn sitzen ließ, um mit dem SQUID-süchtigen und paranoiden Musikproduzenten Philo Gant anzubändeln, in dessen Club sie jetzt singt. Neros Versuche, sie zurückzugewinnen, scheitern an ihrer Karrieresucht, die sie inzwischen emotional abgestumpft hat.
Und dann platzt die Prostituierte Iris in Neros Leben, bittet ihn völlig aufgelöst um Hilfe, hat einen Video-Clip in seinem Wagen hinterlassen, der dummerweise abgeschleppt wurde - und wird kurz darauf umgebracht. Und Lenny Nero erkennt die schrecklichen Möglichkeiten von SQUID, als ihm der Mörder einen Clip zuschickt - er hat den Mord mitgefilmt. Nero muss Iris? Video-Disc finden, und jetzt beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn zwei durchgeknallte Polizisten sind ebenfalls hinter der Disc her. Und über all dem tickt der Countdown zum Jahreswechsel ...
Die Zusammenarbeit von Produzent James Cameron ("Aliens", "Terminator", "Titanic") und Regisseurin Kathryn Bigelow (
"Near Dark", "Blue Steel", "Gefährliche Brandung") hat einen futuristischen Neo-Noir-Thriller entstehen lassen, der neben einem Höchstmaß an Spannung und einer Endzeit-Atmosphäre zwischen Chaos und Hoffnung eine ausgeklügelte Story und gut ausgearbeitete Charaktere aufzuweisen hat. Camerons Talent, Hochglanzfilme mit einer gewissen epischen Größe zu produzieren, ist hier ebenso zu spüren wie Bigelows Sinn für knallharte, atmosphärisch sehr dichte Geschichten und die intensive Nähe zu den Figuren. Ein gutes Gespann für einen Film, der eine Zukunftsvision darstellen sollte.
Die Schaustellerriege kann sich sehen lassen und arbeitet exzellent: Ralph Fiennes ("Der englische Patient", "Schindlers Liste") ist eine unerwartete, aber sehr gute Wahl für die Figur des Lenny Nero, dessen große Bandbreite an Licht- und Schattenseiten der britische Schauspieler gekonnt und einfühlsam darzustellen vermag. Nero lebt in seiner eigenen Welt, das zeigt auch schon eine der ersten Szenen, in der er durch die Straßen der Stadt fährt und im Auto laute Opernmusik hört, während um ihn herum ein Straßenkrieg stattfindet. Angela Bassett, die schon als Tina Turner in "What's love got to do with it" eine starke Frau spielte, ist für die Rolle der schlagkräftigen "Mace" wie geschaffen, Michael Wincott spielt Philo Gant so, wie wir es von ihm sehen wollen, nämlich ganz ähnlich der Bösewicht-Rolle in "The Crow", und Juliette Lewis ("Kap der Angst", "Natural Born Killers") beweist hier, dass sie nicht nur gut schauspielern kann, sondern auch eine gute Sängerin ist, denn Faiths Songs hat sie selber eingesungen. Bei keinem der tragenden Charaktere hat man das Gefühl, dass er oberflächlich konzipiert wurde, ihre Motivationen und Handlungen sind immer nachvollziehbar, eine klare Stärke dieses Films.
Die Stadt Los Angeles wächst über ihr Dasein als bloßer Schauplatz hinaus: Zwischen dem Fall Rodney King, dessen Ermordung 1992 heftige Rassenunruhen ausgelöst hatte und hier Pate stand, und den ewigen Weltuntergangs-Prophezeiungen zur Jahrtausend-Wende wird diese US-Medien-Metropole beinahe zur eigenen Figur, die den Akteuren mal hilft, sich mal ihnen entgegen stellt und immer lebendig auf sie einwirkt. Die Endzeitstimmung ist hier allgegenwärtig und wird noch dadurch verstärkt, dass der Film - eigentlich paradox bei dem Filmtitel - nur nachts spielt.
Bei den vielen Extras auf der Bonus-DVD weiß man gar nicht, wo man anfangen soll: Trailer, Teaser, kurze Interviews mit Schauspielern und Produktionscrew - beim Interview mit Juliette Lewis ist die Tonspur verglichen mit dem Bild etwas auf Abwege geraten - sowie einige nicht verwendete Szenen stehen neben einem einstündigen Interview mit Kathryn Bigelow zu der besonderen Kameraführung, die für die SQUID-Sequenzen erst mal erfunden werden musste, und zu Dreh und Schauplätzen sowie einer Featurette zu den visuellen Effekten. Daneben gibt es das Musikvideo zum Song "Selling Jesus" von Skunk Anansie, den die Band auch im Film performt, Produktionsnotizen, ein Presseheft, das man sich im pdf-Format von der DVD herunterkopieren kann und vieles mehr. Allein schon mit der Bonus-DVD ist man lange beschäftigt, und das meiste darauf lohnt sich wirklich.
"Strange days" ist Thriller, Drama, Endzeit-Vision, hat Spannung, Action und eine Prise Humor, ist ultrahart - die Vergewaltigung und Ermordung, die man aus der Sicht des Täters miterlebt, lässt einen fast, aber nur fast, nach FSK-18 schreien - und perfekt produziert. Er will provozieren, indem er manche Dinge, etwa gewalttätige Polizisten, überspitzt darstellt, und fesselt durch die intensive Nähe zum Geschehen und zu den gut ausgearbeiteten Charakteren. Kurz gesagt, er hat eigentlich alles, was man braucht, wenn man hartgesotten genug ist und sich bei Thrillern nicht an futuristischen Elementen stört. Und auch wenn der Jahrtausendwechsel ohne Weltuntergang vorüber gezogen ist, fesselt dieses Plädoyer für mehr Menschlichkeit von der ersten bis zur letzten Minute.