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Der Titel dieses Buches ist bewusst als Provokation formuliert, spielt doch angesichts der zunehmenden Brutalität an Schulen gerade die Aggressionsvermeidung eine wichtige Rolle.
Läuft aber die Verteufelung von Aggressionen per se möglicherweise an der Natur der Kinder vorbei?
Dieser Frage widmet sich der Psychologe Jan-Uwe Rogge in seinem Buch "Kinder dürfen aggressiv sein".
Anhand etlicher Beispiele aus seiner Praxis zeigt er zunächst auf, wie hilflos Eltern und Erzieher auf die manchmal explosive Aggression, ob tätlich oder verbal, von Kindern und Jugendlichen reagieren. Neben den klassischen "Problemfällen" aus schwierigen Familienverhältnissen handelt es sich häufig auch um Kinder aus so genannten intakten Familien, in denen die Erziehung sehr ernst genommen wird und die Eltern ihrem Nachwuchs die besten Startchancen für das Leben bieten möchten. Diese Beispiele kommentiert der Autor zunächst nicht, sondern lässt sie, anders als in den folgenden Kapiteln, im Raum stehen.
Das nächste Kapitel zeigt auf, dass Aggressionen zum Leben und zur Entwicklung gehören und oftmals Hilferufe darstellen, wenn Kinder durch die Erziehung über- oder unterfordert oder erdrückt werden. Auch Gewalt als erzieherisches Mittel löst natürlich Aggressionen im Kind aus. Der Autor weist nach, dass verstärkte Aggressivität zu bestimmten Entwicklungsphasen gehört, in denen Kinder und Jugendliche mit ihrer scheinbaren Unzulänglichkeit, ihren Erwartungen an sich selbst nicht zurechtkommen, und dass "Aggressionsmanagement" erlernt werden will. Ein weiteres Kapitel widmet sich Einflüssen von außen, beispielsweise der Geschwisterrivalität, der Gleichaltrigenclique und der Gewalt in der Schule. Im letzten Kapitel geht es um Problemlösungen: Wie können Eltern und Erziehende Möglichkeiten zum "gesunden", an Ritualen orientierten Ausleben der kindlichen Aggressionen bereitstellen - etwa Sportarten, in denen rituelle Kampfhandlungen gepflegt werden - und ein Überschießen der Aggressionen verhindern, die oft aus mangelnder Bewegung und, wie erwähnt, dem ganz natürlichen "Frust", den Selbstzweifeln von Kindern und Jugendlichen resultieren? Wie lassen sich Wiederholungen von Übergriffen und Sachbeschädigung vermeiden, wie führt man eine vernünftige Streitkultur ein? Auch hier stehen Beispiele aus der Praxis im Mittelpunkt, die umfassend erläutert werden und Eltern sowie Erziehern und Lehrern viel praktisch umsetzbares Anschauungsmaterial bieten.
In vielen der geschilderten Situationen erkennen Leser, die täglich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, sich und ihre Schützlinge wieder. Die erwähnte Praxisnähe gehört zu den Pluspunkten des Ratgebers, denn so wichtig ein fundiertes Hintergrundwissen ist: Die meisten Leser dürften vor allem nach konkreten Anregungen zur Bewältigung alltäglicher Situationen und Krisen suchen, die mit aggressivem Verhalten in Zusammenhang stehen.
Der Autor differenziert sinnvollerweise sowohl zwischen den verschiedenen Alters- beziehungsweise Entwicklungsstufen als auch zwischen den Geschlechtern, denn das Aggressionsverhalten von Jungen und Mädchen unterscheidet sich in vielen Details.
Die reiche Berufserfahrung des Autors schlägt sich in dem breiten, gut ausgewählten Spektrum von Fallbeispielen nieder, die manchmal erschreckend, fast überzeichnet wirken, manchmal wiederum auch von Lesern sozusagen wiedererkannt werden, die mit "durchschnittlichen" Kindern und Jugendlichen zu tun haben.
Erfreulicherweise räumt der Autor mit dem im Grunde vor allem jungenfeindlichen Mythos auf, dass Aggression nur negativ besetzt sein müsse. Indem er einem gesunden Maß an Aggression und vertretbaren Ausdrucksmöglichkeiten derselben eine Existenzberechtigung einräumt und die erwähnten Möglichkeiten zum ritualisierten, in deutlich abgesteckten Grenzen verlaufenden Ausleben von Aggressionen vorschlägt, ermöglicht er einen unverkrampften Umgang damit und nimmt viel Druck von den Eltern, vor allem aber auch von den Kindern und Jugendlichen, die eine Chance erhalten, den sinnvollen Umgang mit ihren Aggressionen zu erlernen, ohne mit ihnen ein schlechtes Gefühl zu verbinden.
Das Buch ist gut verständlich und anschaulich verfasst und schon aufgrund der eingebetteten Fallbeispiele alles andere als langweilig und trocken, weshalb die Lektüre nicht schwerfällt. Somit gehört es zu den recht dünn gesäten Ratgebern, die sowohl durch ein sinnvolles Maß an Hintergrundwissen als auch durch ein hohes Maß an Umsetzbarkeit und eine gute Lesbarkeit überzeugen - und ist allen Erziehenden sehr zu empfehlen.