Media-Mania.de

 Die Geburt Europas im Mittelalter


Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis


Die Fragen der Europäer: "Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?" sind nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen EU-Erweiterungen und Pläne hierzu von großer Aktualität. Im Rahmen der von fünf Verlagen aus unterschiedlichen Ländern erstellten Reihe "Europa bauen" leistet Jacques Le Goff mit seinem Buch einen Beitrag zum Verständnis dieser Fragen, denn die Antworten liefert seiner Meinung das Mittelalter.
Die "Empfängnis Europas" findet, so Le Goff, im frühen Mittelalter statt, als die Christianisierung Roms, die Völkerwanderung, die Auflösung Westroms und der sich bereits abzeichnende Konflikt zwischen Byzanz und dem Islam das Weltbild der Antike und deren Strukturen zum Erliegen bringen. Schließlich gelingt es den Franken, Macht zu konzentrieren, und es kommt zur "Fehlgeburt Europas" unter Karl dem Großen; Le Goff wendet sich hier entschieden gegen die Historiker, die Karl den Großen als Vater Europas sehen. Erst um das Jahr Tausend präsentiert sich in Europa die Möglichkeit einer Einheit, zumal sich im östlichen Mitteleuropa und im Norden "neue" Nationen hinzugesellen und sogar so etwas wie eine mittelalterliche Friedensbewegung entsteht. Im vom Feudalismus und tiefer Frömmigkeit geprägten 11. und 12. Jahrhundert handelt Europa relativ einheitlich: Die Kreuzzüge setzen (zumindest vordergründig) aus Frömmigkeit geborene Ideen um, und intern werden Juden und Häretiker erstmals massiv verfolgt.
Das 13. Jahrhundert sieht ein Europa der Städte und Universitäten; Le Goff zeigt, dass es damals durchaus einen "europäischen Stadtbürger" gab. Handel und Universitäten verbinden Europa nun ebenfalls, und die vielerorts populären Bettelorden tragen eine neue Strömung in die Kirche.
Das letzte Kapitel, treffend betitelt mit "Herbst des Mittelalters oder Frühling neuer Zeiten?", befasst sich mit den vielen Brüchen des 14. Jahrhunderts, das von Hunger, Krieg und Pest geprägt wird. Le Goff erläutert diese bewegte Zeit: In der Kirche kommt es zum Schisma, Wyclifiten und Hussiten läuten bereits die Reformation ein, und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verliert stetig an Einfluss. Während Spanien die Mauren zurückgeschlagen hat, erwächst dem christlich orientierten Abendland aus dem Osten eine neue Gefahr durch die Türken. In dieser Situation präsentiert der böhmische König Georg von Podiebrad einen erstaunlich modern anmutenden Europaplan. Und zugleich streckt Europa seine Fühler nach Afrika und über den Atlantik aus.

Jacques Le Goff möchte in diesem Buch keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorstellen, sondern zeigen, welche Komponenten und Ideen unseres modernen Europas aus dem Mittelalter stammen. Er wendet sich gegen ein zentralistisch geführtes Europa, wie es seiner Meinung nach Karl der Große zu errichten versuchte (nicht alle Historiker sehen das so - für viele ist Karl der Vater Europas und nicht etwa Verursacher einer Fehlgeburt wie bei Le Goff), der damit ebenso scheiterte wie später Napoleon. Le Goff befürwortet eher ein Europa, das auf einer gemeinsamen Ideenwelt basiert. Die Bedrohungen für Europa ähneln jenen des Mittelalters, wie er aufzuzeigen vermag, frappierend, sieht sich Europa doch auch heute der Gefahr gegenüber, die von muslimischen Gruppierungen ausgeht. Und die künftige Osterweiterung der EU rüttelt konfliktträchtig an einer uralten Grenze: jener Bruchlinie, an der römisches Christentum und Orthodoxie und die aus ihnen hervorgegangenen Kulturen aufeinander trafen und treffen.
Es ist erstaunlich, wie es dem Autor gelingt, auf relativ wenigen Seiten - der eigentliche Text umfasst 270 Seiten, der Rest besteht aus Karten, Zeittafel, Literaturhinweisen etc. - einen detaillierten Überblick über mittelalterliche Religion, Politik und Kultur zu geben, zumeist hinsichtlich ihrer Bedeutung für das moderne Europa, zuweilen auch bezüglich der deutlichen Unterschiede. Für den Leser erweist sich die Einteilung in griffige Unterkapitel, die einzelne Aspekte herausgreifen, als sehr komfortabel, und auch Le Goffs flüssiger Stil und seine klare Argumentation gestalten die überaus informative Lektüre angenehm und kurzweilig.
Zum Verständnis des Buchs erweist sich eine solide geschichtliche Allgemeinbildung, wie sie die Schule vermittelt, als nützlich; darüber hinausgehende Kenntnisse sind nicht erforderlich. Das Buch eröffnet dem Laien den Blick für Zusammenhänge zwischen dem Heute und damit verknüpften Entwicklungen aus dem Mittelalter sowie für Prozesse, die im Mittelalter einsetzten und heute noch andauern. Le Goff vermag schlüssig nachzuweisen, dass im Mittelalter die Wurzeln zu finden sind, die dem Europa unserer Zeit Chancen vermitteln, zum Teil aber auch die Gefahr der Spaltung in sich bergen.

Regina Károlyi



Taschenbuch | Erschienen: 01. März 2007 | ISBN: 9783423344067 | Originaltitel: LÂ’Europe est-elle née au Moyen Age? | Preis: 12,50 Euro | 344 Seiten | Sprache: Deutsch

Werbung

Dieser Artikel könnte interessant sein:

Zu "Die Geburt Europas im Mittelalter" auf Amazon

Hinweis: Als Amazon-Partner verdiene ich an qualifizierten Käufen.



Ähnliche Titel
Mit Kompass und KorsettVon Kaffeeriechern, Abtrittanbietern und FischbeinreißernGeschichte der TürkeiGeschichte der Welt 1870-1945Die Geburt Europas im Mittelalter