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Zehn Jahre nach dem ersten Band des Lehrbuches der systemischen Therapie und Beratung von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer veröffentlichen die beiden Autoren einen Folgeband. Hier geht es nicht um Grundlagen der systemischen Praxis, sondern um störungsspezifisches Wissen. Behandelt werden hier entlang der fachpsychiatrischen Diagnosen Störungen, die systemisch begleitet oder behandelt werden können. Das Buch gliedert sich in vier große Teile.
Im ersten Teil wird die Stellung der systemischen Therapie zum klassischen Krankheitskonzept und zur klassischen Behandlungsweise erläutert. In den recht kurzen Kapiteln wird deutlich, dass die wütenden Jahre der systemischen Therapie lange vorbei sind. Nicht alles ist Kommunikation und nicht alles einfach nur Störung eines sozialen Systems. Zum einen liegt das auch daran, so gestehen die Autoren ab und zu ein, dass ein individueller Krankheitsbegriff für die Familie entlastend wirken kann, wie zum Beispiel bei Kindern mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Zum weiteren hat die systemische Theorie immer das Zusammenspiel von Systemen betont, und auch hier muss sie sich ihrer Allparteilichkeit oder Neutralität bewusst werden. Die körperlichen Systeme können nicht einfach beiseite gelassen werden. Drittens aber wird dem immer noch schwierigen Stand der systemischen Therapie in Deutschland Rechnung getragen.
Die anderen drei Teile behandeln die systemische Psychotherapie mit Erwachsenen (Abschnitt 2), die systemischen Kinder- und Jugendlichentherapie (Abschnitt 3) und die systemische Familienmedizin (Abschnitt 4). Die einzelnen Abschnitte sind in störungsspezifische Kapitel unterteilt, die den klassischen Diagnosen folgen. Ob dies Depressionen, Zwänge oder Süchte sind, Legasthenie, Aufmerksamkeitsstörungen oder Jugendkriminalität, Begleitung bei Brustkrebs, Kopfschmerzen oder Asthma: zunächst werden die früher so hart bekämpften Zuschreibungen akzeptiert.
Die einzelnen Kapitel sind gleichförmig aufgebaut. In einem ersten Abschnitt findet man die Störungsbilder eines bestimmten Symptoms, meist verbunden mit einem Hinweis auf den ICD-10. Erst dann stellen die Autoren die spezifisch systemische Sicht in den Vordergrund. Zu dem jeweiligen Störungsbild werden zum einen die generellen Beziehungsmuster dargestellt, die für eine solche Störung typisch sind, zum anderen die Dynamik in den Familien, wenn eines ihrer Mitglieder eine solche Störung zeigt. Dass hier das ganze System "Familie" mitbeteiligt ist, diese Störung zu "versorgen", aber auch, dass das sichtbare Leid des Patienten mit einem mehr oder weniger deutlichen Leid der Familienmitglieder einher geht, wird hervorgehoben und nachvollziehbar gemacht. In einem letzten Abschnitt zeigt jedes Kapitel, wie die systemische Therapie hier konkret arbeitet oder arbeiten kann. Hier werden einzelne Methoden und Interventionen jeweils spezifisch vorgestellt. Meist findet sich eine kurze Falldarstellung dabei. Erläuternde Schaubilder und passende Cartoons - die Autoren scheinen eine Vorliebe für Hägar, den Schrecklichen zu haben - ergänzen viele Kapitel.
Wie das erste, allgemeine Lehrbuch ist auch dieses hervorragend geschrieben. Insgesamt aber wirkt es doch deutlich ernster und konzentrierter. Ist der erste Band noch von einem häufig humorvollen Ton, der dieses fast zu einer Urlaubslektüre macht, so ist der zweite Band ein Arbeitsbuch. Nichtsdestotrotz ist es so präzise wie eingängig geschrieben. Statt Fachchinesisch findet der Leser klare Argumentationen.
Trotzdem die systemische Therapie nicht mehr von Störungsbildern ausgeht, finde ich die Einteilung des Buches entlang der Hauptsymptome sinnvoll. So kann man sich von der zentralen Sorge einer Familie leiten lassen, wenn man sich über die genauere Problematik informieren will.
Insgesamt also kann man diesem fundierten und umfangreichen Buch nur einen ähnlichen Erfolg wie dem ersten Band wünschen.