Martin B. Stanzeleit scheint zu den Menschen zu gehören, die vom Schicksal ungerecht bevorteilt wurden. Ein Musiker, der auch noch sprachlich begabt zu sein scheint, glücklich verheiratet und Vater zweier Kinder - und zu allem Überfluss kann er auch noch gut schreiben.
Wegen dieses Talentes sollte man auch seinen Neid zurückschrauben und sehen, was Herr Stanzeleit zu erzählen hat. Denn der gute Mann ist nach Japan ausgewandert. Dieser Umstand alleine wäre schon Anlass genug für das eine oder andere Buch über das Leben in dieser fremden Kultur - und so mag es nicht verwundern, dass der Autor in "Neugierig auf Japan" schon über seine Erfahrungen berichtet hat. Aber im Gegensatz zu vielen Ausländern hat es Martin Stanzeleit nicht nach Tokyo verschlagen, nein er lebt mit seiner Familie in Hiroshima.

Hiroshima ist ein Name, bei dem viele Menschen unwillkürlich zusammenzucken. Horrorszenarien einer nach dem Atombombenabwurf zerstörten Stadt ziehen bei bloßer Erwähnung meist sofort vor dem inneren Auge vorbei. Für sehr viele Menschen außerhalb Japans war und ist Hiroshima gleichbedeutend mit dem Leid der Menschen und dem Schrecken der Atombombe. Dass es sich aber auch um eine - mehr oder minder - normale japanische Stadt handelt, in der man ganz normal leben kann, auf diesen Gedanken müssen viele Leute erst einmal gebracht werden.
Vielleicht waren es ja die Erlebnisse, die im ersten Kapitel beschrieben werden, die den Autor zum Verfassen seines neuesten Buches "Mein Hiroshima" veranlasst haben. Und so erzählt der Autor seinen Lesern in einundzwanzig Kapiteln vom Leben in dieser besonderen Stadt.
Obwohl dem Ort entsprechend auch ernste Töne angeschlagen werden, ist der Erzählton des Buches meist locker, humorig und etwas verschmitzt, dabei aber gerne etwas wehmütig und vielleicht auch mal bitter. Das bezieht sich dann meist auf das unaufhaltsame Vorrücken der Moderne, die dem Autor oft nicht wirklich behagen will.
Themen sind oft Ausflüge durch die Stadt und ihre Umgebung, aber es wird auch alltägliches Leben wie der Umzug in ein neues Haus oder der ewige Kampf mit der vorhandenen Technik beschrieben.

Leser, die Japan nicht gut kennen, werden in diesem Buch einen guten Einblick in das Leben in einer japanischen Großstadt, speziell natürlich Hiroshima, entdecken. Dabei schafft es der Autor sehr lebendig seinen Alltag sowie besondere Ereignisse dem Leser näher zu bringen.
Japankundige Leser werden in den Beschreibungen viele ihrer eigenen Erlebnisse wieder finden oder interessante Ergänzungen zu ihren Erfahrungen entdecken.

Die Kapitel werden durch zehn schwarzweiße Fotografien eines im entsprechenden Kapitel beschriebenen Ortes ergänzt, die der Autor selbst aufgenommen hat. Dabei handelt es sich nicht nur um berühmte Sehenswürdigkeiten, sondern auch um sehr persönliche Bilder, wie den vom Autor entdeckten Kramladen.
Zusätzlich gibt es zwei Karten von der Innenstadt Hiroshimas und der Umgebung der Stadt, die herrlich selbst gezeichnet wirken.
Abgeschlossen wird das Buch mit einer Bibliografie zum Thema Hiroshima, die das Bedürfnis nach ernsterer Literatur dazu stillen dürfte.

Wer Japan von einer interessanten, gut gelaunten, persönlichen Seite kennen lernen möchte, dem sei Martin Stanzeleit empfohlen. Der Autor schafft es hier, sowohl seine Nähe zu Japan zu zeigen als auch vieles aus der Sicht des Deutschen zu erklären - ein gelungener Balanceakt, der das Lesenvergnügen noch bereichert.
"Mein Hiroshima" ist sehr viel persönlicher, als es "Neugierig auf Japan" war und gibt Gelegenheit, das Land, diese Stadt und auch den Autor etwas besser kennen zu lernen. Bei dem hervorragend unterhaltsamen Schreibstil von Martin Stanzeleit ist dieser Erkundungsgang durch Hiroshima nicht nur lehrreich, sondern auch sehr kurzweilig. Für alle Japanfans und solche, die es noch werden wollen, ein sehr empfehlenswertes Buch.