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Wenn ein Schwimmer, so erzählt der französische Philosoph Michel Serres, den Ärmelkanal durchschwimmt, kommt er an einen bestimmten Punkt, an dem er weder auf der einen Seite, noch auf der anderen Seite ist. Er ist weder hier, noch da; und aus dem gleichen Grunde ist er sowohl dort als auch hier - in England und Frankreich zugleich. Der Schwimmer erfährt ein seltsames Zwischenreich, eine Ortlosigkeit. Das, was Serres über den Schwimmer erzählt, untersucht Ottmar Ette für die Literatur. Es geht um das Schreiben, wenn man zwischen Welten lebt.
Doch was für Welten sind diese Zwischenwelten? Und was für ein Schreiben ist es?
Ette findet darauf keine einheitliche Antwort. Er will es auch gar nicht. Zu zahlreich seien all die Phänomene der Deportation, der Vertreibung, der Deplatzierung oder einfach der Neugierde, die den Menschen in fremde Welten wegreißt.
Acht Kapitel mit Untersuchungen umfasst dieses Buch, zusätzlich eine Einleitung und ein neuntes Kapitel, in dem es um Ettes eigenes Fach geht, um die Romanistik.
Das erste Kapitel - Figurationen benannt - stellt beispielhaft den Umgang jüdischer Schriftsteller mit der Judenverfolgung vor. Gleich zu Beginn verdeutlicht Ette, dass das Weltbewusstsein kein universeller Fixpunkt ist. Weltbewusstsein bedeutet vielmehr eine Spezialisierung, und zwar eine solche, die sich jeweils an einem neuen Gegenstand neu erfindet. Spezialisierung ist insofern universell, als sie jedes Mal einzigartig ist, nicht vom Fach, von der Disziplin her, sondern eben vom Gegenstand. In dieser Spezialisierung ist schon die Reise eingezeichnet und auch, dass die Spezialisierung immer in einer Zwischenwelt stattfindet.
Das Schreiben jüdischer Schriftsteller spezialisiert sich nun jeweils anders und jeweils neu. So transformiert Albert Cohen - laut Ette - die Erfahrungen Jude sein zu müssen, als man eigentlich noch Kind war, in ein Schreiben. Dies jedoch kann er erst, nachdem er jahrelang herumgeirrt ist. Bei Emma Kann stehen die verschiedenen Schichten des Entronnenseins im Mittelpunkt der Gedichte. Dabei spürt sie den zahlreichen Aspekten der Heimatlosigkeit nach. Bei Max Aub wird das Konzentrationslager zum Sammelpunkt der unmöglichsten Biographien. Die Menschen, die das Lager bevölkern, sind von solch grotesker Zusammenstellung, wie die mittelalterlichen Chimären aus verschiedensten Tieren bestanden: das Lager konzentriert, aber nur, um die Zerstreuung deutlich zu machen. Schließlich spürt Ette im Werk Cécile Wajsbrots nach, wie sich Auschwitz in einem ganz anderen - einem französischen - Konzentrationslager wiederfinden lässt, wie sich gleichsam unterhalb des französischen Bodens der preußische Boden widerspiegelt. - Alle vier Beispiele aber zeigen, wie sich in der Erfahrung des Jude-Seins ein Vektor findet, oder eine bestimmte Bewegung: der des Entrinnens. Jedes Mal ist dieses Entrinnen etwas anderes, und insofern spezialisiert, doch jedes Mal ist es mit der Erfahrung des Lagers verknüpft.
Simulationen heißt das zweite Kapitel. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht das Werk des französischen Schriftstellers Blaise Cendrars. Cendrars Figuren sind in beständiger Bewegung: sie reisen durch die ganze Welt, stranden auf einsamen Inseln und können doch nicht aufhören, Nomaden zu sein - als ob die Insel der einzige Aufenthaltsort für den Nomaden sei und der Nomade die Insel mit sich trage. Ette vagabundiert hier selbst durch verschiedene Aspekte von Cendrars Werk. Der Nomade lebt ein fraktales Leben: das Fraktale sei sich selbst ähnlich. Nie aber sei es sich gleich.
Das dritte Kapitel behandelt das Problem des Übersetzens: der Übersetzer befinde sich zwischen seiner eigenen Kultur und der des zu übersetzenden Werkes. Auch dies sei ein ZwischenWeltenSchreiben.
Im vierten, fünften und siebten Kapitel konzentriert Ette sich jeweils auf verschiedene Phänomene der süd- und mittelamerikanischen Literatur: die politische und literarische Entwicklung in der Karibik (viertes Kapitel), die "Nationalliteratur" Kubas (fünftes Kapitel) und den "Echoraum" arabischer und (süd-)amerikanischer Literatur (siebtes Kapitel). Auch in diesen Kapiteln ist das Lager Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen. Gerade Kuba bietet hierfür das politisch skurrilste Beispiel auf, findet man doch im berüchtigten Lager von Guantanamo nicht nur ein Echo zu der Sklaverei und der Piraterie, sondern auch eine Deplatzierung arabischer "Nomaden" und "Partisanen" in den mittelamerikanischen Raum. So untersucht Ette im Umfeld dieses politischen Gefangenen-Lagers Gabriel García MárquezÂ’ "Chronik eines angekündigten Todes" und dessen arabisches Echo, Elias Khourys "Der geheimnisvolle Brief".
Das sechste Kapitel ist "deutschen" Schriftstellern gewidmet, Yoko Tawada und Emine Sevgi Özdamar. Was bedeutet es für eine Japanerin und eine Türkin auf Deutsch zu schreiben? Vor allem aber: was bedeutet dies für die deutsche Literatur? Tawada findet in der deutschen Sprache die "Kindheit" - nicht ihre eigene -, während für Özdamar sich das Deutsche gerade dadurch auszeichnet, dass es Wörter ohne Kindheit seien. Beiden gemeinsam aber ist, dass die fremde Sprache - das Deutsche - nicht im Sinne der Muttersprache verstanden, sondern als Wahl behandelt wird. Man könne mit ihr etwas machen, sagt Tawada, und Özdamar schreibt: "Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin." - So wird gerade der Blick eines Nicht-Muttersprachlers erhellend für das Multilinguale im Deutschen.
Das achte Kapitel greift auf das erste Kapitel zurück: die Erfahrung des Überlebt-habens öffnet einen Echoraum der Stimmen. Anhand des Werkes von Cécile Wajsbrot zeigt Ette auf, wie sich fremde Stimmen in das eigene Schreiben einlagern. Der vergangene Ort und der aktuelle Ort überlagern sich zu einer Zwischenwelt, in der Wajsbrot schreibt.
Abschließend stellt Ette sechs Thesen für seine Fachdisziplin - die Romanistik - auf.
Der Leser wird gemerkt haben, dass ich mit einiger Ungeduld durch diese Rezension gegangen bin. Dies liegt an der Vielzahl der Themen, die Ette behandelt. Zum einen entstehen dadurch zahlreiche Echos zwischen den einzelnen Kapiteln des Buches; zum anderen aber wird nie ein bestimmtes Thema wirklich gesättigt. Zusammenfassen kann man diese mehr schlecht als recht.
Ist das Buch gut? Ja, auf jeden Fall. Das sprunghafte Vorgehen, die zahlreichen angesprochenen Werke und Sichtweisen verdeutlichen, dass ein Werk nie in sich, sondern oft nur in Bezug auf andere, manchmal ganz weit entfernte Werke lesbar ist. Insofern erweitert Ottmar Ette zahlreiche Lektüre-Horizonte.
Ist das Buch also gut? Nein, keinesfalls. Das sprunghafte Vorgehen bleibt letzten Endes zu vage. Es wiederholt auf literarischer Ebene, dass es Globalisierung gibt und dass Globalisierung auch bedeutet, dass arabische Schriftsteller südamerikanische Bestseller lesen und japanische Schriftsteller arabische Bestseller lesen. Zudem bietet Ette nur einen wolkigen Begriffsapparat an: zu wenig, um damit guten Gewissens weiterforschen zu können. Enttäuschend ist dies vor allen Dingen deshalb, weil Ette sich mit einer großen Monographie zu Roland Barthes ausgezeichnet hat. Barthes selbst hat die strenge Logik der Semiotik in höchst elegante Texte zu verwandeln gewusst. Die strenge Logik und der elegante Text - Ottmar Ette konnte es in anderen Werken; hier fehlt es ihm. Stattdessen muss man sich als Leser zu oft mit allerlei akademischen Wortergüssen herumschlagen, die man zur Not noch als Sätze bezeichnen kann. Das ist wirklich enttäuschend. Von zahlreichen Verbindungen, die nicht gezogen wurden, mag ich nicht reden: dem Begriff des Archipels, der für Lyotard so wichtig war, dem Übersetzen, zu dem es gerade für Walter Benjamin umfangreiche Sekundärliteratur gibt, dem Nomaden - hier sind Deleuze und Guattari zu nennen -, von all diesen zahlreichen Verbindungen wurden die wenigsten gezogen und die restlichen nur angedeutet.
Fazit: anregend ist das Buch und sehr enttäuschend zugleich. Von (wissenschaftlicher) "Verantwortung" aber, wie die Frankfurter Rundschau schreibt, habe ich in diesem Buch wenig gespürt, vom "hohen Unterhaltungswert" nichts. So eignet es sich wohl nur für Romanisten im Hauptberuf und Lesebesessene.