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Die spießige Gesellschaft der 1940er und 1950er Jahre, die zwischenmenschliche Regungen tabuisiert; ein verschrobener Zoologe, der sich bislang der Erforschung der Gallwespen gewidmet hat; ein Haufen junger Studenten, die freilich "nur aus wissenschaftlichem Interesse" an den Vorlesungen zur Sexualforschung teilnehmen ... klingt das nicht nach einem perfekten Stoff für T.C. Boyle? Der amerikanische Romancier mit seinem Hang für Skurrilitäten (Wassermusik, Worlds End, Willkommen in Welville) nimmt sich in seinem jüngsten Roman einer amerikanischen Legende an, nämlich jener des Zoologen Dr. Alfred Charles Kinsey, der mit seinem Report über die Sexualität des Menschen die Nation der Vereinigten Staaten aufrüttelte. Der Kinsey-Report war Initiialzündung der US-amerikanischen Sexualforschung; nach seiner Veröffentlichung wurde all das, was Jahrhunderte lang "im Dunkeln getrieben wurde", endlich offiziell und amtlich. Man diskutierte endlich über Sex, an den Hochschulen und in den Privathaushalten, und mit Fug und Recht darf man Kinsey als den Vater der sexuellen Revolution der USA bezeichnen.
Die komödiantischen Aspekte einer "wissenschaftlichen" Erforschung der Sexualität - Kinsey ließ circa 20.000 Menschen von seinen studentischen Hilfskräften über ihr Liebesleben befragen - hat T.C. Boyle in seinem über 500 Seiten starken Roman trefflich herausgearbeitet. Hauptfigur ist dabei ein (fiktiver) Mitarbeiter Kinseys, John Milk. Um an einer Sexualvorlesung Kinseys teilnehmen zu dürfen, verlobt sich John zum Schein mit einer Mitstudentin (denn nur Verlobten war die Teilnahme an dem Seminar gestattet), gerät schnell in den Bannkreis des Professors und wird bald zu seinem engsten Vertrauten. Der auf strenge Wissenschaftlichkeit pochende Zoologe ist, ebenso wie seine Mitarbeiter, streng darauf bedacht, das Thema Sex nur aus Forschersicht zu untersuchen, und die mitunter arg bemühten Versuche der Studenten, das ganz und gar weltliche Interesse an dem Thema zu kaschieren, birgt genug Potential für umwerfende Szenen. Die trocken-verklausierte Sprache der 1950er Jahre fängt Boyle gekonnt ein, ebenso das verklemmte universitäre Umfeld, das nach dem Kinsey-Report spürbar erblüht. Da verzeiht man dem Autor seine wie immer etwas oberflächlichen Charaktere. Vor allem der Erzähler John Milk kommt arg naiv daher und kann nicht völlig überzeugen.
Dennoch: Auch dieser jüngste Streich von T.C. Boyle überzeugt durch seinen milden Humor, sein Augenzwinkern und eine durchweg originelle Handlung. Vielleicht nicht das beste Buch des amerikanischen Autors, aber für Boyle-Fans absolut unverzichtbar.