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Eigentlich ist der Titel von Arno Geigers Erzählband irreführend. Nicht um das Zentrum des Vergessens kreisen die Geschichten, sondern um das Vergessen-Werden und die Einsamkeit, die damit einhergeht. Keine der Figuren aus Geigers Universum hat einen Ruhepunkt gefunden, alle sind sie nur Pünktchen, die alleine im Raum hängen.
Anna beispielsweise aus der titelgebenden Erzählung, sieben oder acht Jahre alt. Und auch wenn sich die Handlung um ihre Mutter Ella entspinnt, das heimliche Zentrum bleibt doch das Kind. Als Ella ihre Tochter einmal zu spät aus der Schule holt, zwingt das Kind ihre Mutter überall in der Wohnung Zettel aufzuhängen: "Anna nicht vergessen". Und auch wenn beiden die Suche nach Geborgenheit deutlich anzumerken ist, vermögen sie diese einander nicht zu geben. Ella kompensiert dies in der Zerstörung fremder Geborgenheit - als femme fatale, die im Auftrag misstrauischer Ehefrauen deren Männer in Versuchung führt. Und damit meist Erfolg hat, die Quote muss stimmen, sonst würde man an ihrem Einsatz zweifeln. Anna wählt einen anderen Weg: die Flucht in eine Phantasiewelt. Ihre richtige Mutter wird sie abholen, in drei Wochen wird ihre richtige Mutter sie abholen.
Der Band "Anna nicht vergessen" besteht nicht, wie man es häufig findet, aus zusammengewürfelten Erzählungen. Vielmehr handelt es sich um streng komponierte, in drei Blöcken (Tage, Jahre, Leben) zu je vier Geschichten gruppierte Texte, die alle dasselbe Thema umkreisen: die Einsamkeit. Ob die alte Frau, deren Katze ein Tumor aus dem Bauch operiert wurde, oder die Witwe, die Tonbänder für ihren neuen Lebensgefährten in Sydney bespricht. Alle sind sie isolierte und freihängende Pünktchen. Ein Mann, der seine Beziehung und das Ende dieser Beziehung protokollarisch sachlich erfasst notiert irgendwann: "Es ist Heiligabend, ich bin zum erstmals im Leben allein und kann jetzt ermessen, wie es all diesen Menschen geht, die so langsam vereinsamen." Dabei war er schon immer alleine. Und vielleicht weiß er es auch selbst.
Eigentlich ist es nicht einmal richtig, von Geschichten zu sprechen, vermutlich müsste man sich auf die formalere Bezeichnung Texte zurückziehen. Denn es findet sich auch der oben bereits angesprochene Tonbandmonolog sowie ein Brief, der auf sechzehn Seiten auflistet, was alles bei einem Hausbrand zerstört wurde. Und mit jedem Wort dieses Protokolls, das auf einen verbrannten Gegenstand verweist, wird dieser wertloser. Denn es ist nichts an ihn geknüpft, er besitzt keine Seele, keine Aura (Benjamin). Das Haus, das da niedergebrannt ist, hätte auch leer sein können.
Alle Figuren sitzen in einem Wartesaal und hoffen darauf, dass morgen das Leben anfängt. Doch alle Anfänge sind nur kurze Strohfeuer und eine trostlose Spur des ersehnten Feuerwerks. Da ist es mehr als zynisch, dass der Tonbandmonolog mit einer Aufnahme von Beethovens Ode an die Freude beginnt. Was die Figuren an Gemeinsamkeit hatten, ist zur Einsamkeit verkümmert - und man erwartet als Leser nicht, dass die Figuren daraus erlöst werden könnten. Alles Erzählte besteht nurmehr aus Bruchstücken - wie die Figuren, von denen erzählt wird.
Arno Geigers Texte gehen nahe. Oft so nahe, dass es weh tut. Er zielt auf einen der wundesten Punkte und er trifft ihn genau. Und das fasziniert. Auch lange, nachdem man das Buch zurück in das Regal zu den anderen gestellt hat, wird es noch beunruhigend herumgeistern. Das ist als Kompliment zu verstehen.