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Dystopien sind seit einiger Zeit wieder im Kommen, was vielleicht einen Hinweis auf die zunehmende Unsicherheit in unserer modernen Weltgesellschaft demonstriert. Die Klassiker des Genres - Orwells "1984" und Huxleys "Brave new World" - werden wieder häufiger gelesen und zitiert, und der auf einem Comic basierende Film "V wie Vendetta" feierte als moderne Variante großen Erfolg im Kino. Steckt dahinter die unterschwellige Befürchtung, dass auch unsere Gesellschaft sich zum Negativen hin entwickelt - in einer Zeit des weltweiten Terrorismus, der drastischen Einschränkung von Bürgerrechten und einer durch technischen Fortschritt schrankenlosen Überwachung?
Der Roman "Noir" kommt auf jeden Fall zur rechten Zeit. Der französische Schriftsteller Oliver Pauvert zeichnet hier das düstere Bild eines Frankreichs in naher Zukunft, das zu einem aggressiven, menschenverachtenden Überwachungs- und Polizeistaat mutiert ist. Polizeiwillkür, Terror und Propaganda sind die gängigen Mittel des Regimes. Afrikanischstämmige Franzosen werden gegängelt und unterdrückt, Behinderte in Heimen zusammengepfercht. Wer gegen den Staat aufbegehrt, bekommt das gesamte Arsenal an Folter, Lügen und chemischen Beruhigungsmitteln zu spüren. Dennoch proben einige der Unterdrückten den Aufstand, der sich rasch zu einem blutigen Vergeltungsfeldzug auswächst.
In diesen Strudel der Gewalt rutscht ein namenloser Mann hinein, als er bei Nizza unter Mordverdacht gerät und sich fortan auf der Flucht durch das ländliche Frankreich befindet. Ein eigenartiger Mann im Rollstuhl - der trotz einer geistigen Behinderung durch das Down-Syndrom äußerst intelligent ist - hilft ihm; er ist auch die Verbindung zum geheimen Widerstand gegen die Unterdrücker. Die Irrfahrt des Flüchtlings führt auf jeden Fall bis in die großen Städte Paris und Grenoble, wo sich der Terror des Regimes erst ganz entfalten kann.
Pauvert versteht es, einige gesellschaftlichen Entwicklungen des heutigen Frankreichs aufzugreifen. Natürlich muss man einige Passagen als Reaktion auf die Rhetorik des Front-National-Chefs Jean-Marie Le Pen lesen, und auch aktuelle Immigrationsdebatten werden gestreift. Ansonsten hält sich Pauvert allerdings nicht groß mit einem politischen Überbau auf, sondern liefert einen furios geschriebenen Actionroman ab, dessen Stimmung zwischen Grauen und Furcht hin- und herpendelt. Dass "Noir" in der Reihe Heyne-Hardcore erscheint, sollte Warnung genug sein; schon auf der ersten Seite begegnet dem Leser ein ausgeweideter Frauenleichnam, und auch sonst schreibt Pauvert nicht gerade zimperlich. Leider gehen bei dieser Orgie aus Blut und Gewalt auch die Zwischentöne verloren. Wer eine gesellschaftliche Reflektion wie bei Orwell und Huxley erwartet, dürfte enttäuscht werden. Dennoch überzeugt "Noir" als eine moderne, erschreckende Dystopie, die auch zur Wachsamkeit aufruft - nämlich die Entwicklung unserer Gesellschaft, unserer Freiheit und der Menschenrechte auch weiterhin kritisch zu beobachten. In Frankreich, in Deutschland und weltweit.