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Es gibt Länder, die völlig aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden sind, obwohl in ihnen seit vielen Jahren verheerende Zustände, oft auch Bürgerkriege herrschen. Das Außenministerium warnt vor Reisen in diese Länder, aber es würde sich ohnehin kaum jemand für eine Reise dorthin interessieren.
"Die vergessenen Länder" nennt der belgische Journalist Marc Helsen solche Länder. Die meisten von ihnen liegen in Afrika, doch auch Südamerika und Asien haben solche wenig attraktiven Reiseziele zu bieten.
Mithilfe von "Ärzte ohne Grenzen", denen er häufig bei der Arbeit zugeschaut hat, ist Helsen 2006 durch den Kongo, Uganda, Somalia, den Tschad, Haiti, Kolumbien, Armenien, Inguschetien, Bangladesch, Pakistan (Kaschmir) und Afghanistan gereist: oft unter Lebensgefahr und unter für Europäer unglaublichen Bedingungen.
Gerade die genannten afrikanischen Länder ertrinken zum Teil in Flüchtlingsströmen, die sie in einigen Fällen selbst ausgelöst haben. Im Kongo wird die Zivilbevölkerung der Provinz Katanga zwischen mordenden, vergewaltigenden, folternden und plündernden Rebellen und der mit denselben Methoden "arbeitenden" Armee aufgerieben. Somalia ist Tummelplatz etlicher Warlords, die sich hinter Demarkationslinien ähnlich der früheren deutsch-deutschen Grenze verschanzen. Die Flüchtlinge im Tschad kommen aus dem Sudan und gehören demselben Stamm an wie die Einheimischen in der Gegend mit den großen Flüchtlingslagern; ihre Frauen werden von den Ortsansässigen vergewaltigt, wenn sie Brennholz suchen gehen, weil die Einheimischen inzwischen selbst im Elend versinken.
Kaum weniger verheerend wirken die Zustände in Haiti, wo wenige Schwerreiche und eine überwältigende Mehrheit von Slumbewohnern leben. Von Kolumbien hat der Leser vielleicht mehr gehört, wird sich jedoch ebenfalls über manche Hintergrundinformation und etliche Einzelschicksale wundern - beziehungsweise entsetzt sein.
Während der Leser mit Armenien und Inguschetien wenig vertraut sein dürfte, erscheinen Bangladesch, Pakistan und Afghanistan häufiger in den Medien. Helsens Reisebericht bietet jedoch eine sehr differenzierte Sicht auf diese Länder, die der Europäer generell mit einer stark von Vorurteilen getönten Brille betrachtet.
Das Afrika, dem Helsen begegnet, zeichnet sich durch zwei widersprüchliche Eigenschaften aus: unvorstellbares Elend und Menschen mit entwaffnender Freundlichkeit. Selbst verhungernde Flüchtlinge lächeln dem fremden Gast aufrichtig entgegen, während sie ihre karge Ration an Maniokabfällen zubereiten. In Ländern, in denen auf brutalste Weise Kindersoldaten rekrutiert werden, wird in den Flüchtlingslagern wacker weiter Schulunterricht erteilt, obwohl Bücher, Tische und sonstige Ausrüstung zumeist von der Armee gestohlen wurden.
Das Entsetzen, dem Helsen begegnet, ist kaum beschreibbar. Beschnittene Frauen sterben wie die Fliegen bei der Geburt ihrer Kinder, die nicht selten Vergewaltigungen entstammen. Und Kinder werden erst zu den Krankenstationen der "Ärzte ohne Grenzen" gebracht, nachdem Stammesheiler sie erfolglos mit glühenden Nägeln malträtiert haben.
Relativ nüchtern, wie es einem seriös arbeitenden Journalisten gebührt, berichtet Helsen von seinen Reisen, doch Anteilnahme schwingt schon aufgrund seines Interesses an Einzelschicksalen immer durch. Der Autor schildert freilich nicht nur seine Begegnungen mit einer Vielzahl an Menschen, die ihm trotz ihrer bitteren Armut und seines Status als reicher Weißer mit Gastfreundschaft und großer Offenheit begegnen, und die alltägliche Arbeit der "Ärzte ohne Grenzen", sondern auch abenteuerliche Kleinbusfahrten auf engen Bergstraßen in Afghanistan, Erwerbsquellen aller Art, etwa den Mohn- und Hanfanbau in Afghanistan, wo er sich auch an gefährliche Plätze wagt und dort immer wieder Menschen antrifft, die trotz ihrer Lage zwischen allen Fronten, mittellos und ohne funktionierendes Gesundheitssystem, irgendwie existieren.
Helsen weiß auf diese Menschen zuzugehen, wobei ihm auch die Unterstützung durch die überall hoch angesehenen "Ärzte ohne Grenzen"-Mitarbeiter entgegenkommt, und ihnen interessante und brisante Auskünfte über die Politik ihres jeweiligen Landes zu entlocken, die in den meisten Fällen ein trostloses Bild liefern, insbesondere in Afrika und Haiti. Vor allem zeigt sich, wie falsch Entwicklungshilfe oft eingesetzt wird, sofern die Gelder nicht ohnehin im Säckel lokaler Machthaber verschwinden: Gehen die NGOs schließlich aus dem Land, so enden die von ihnen installierten teuren Geräte mangels fachkundiger Wartung und Ersatzteilen in kürzester Zeit als nutzloser Schrott.
Der Autor ist auch ein begnadeter Fotograf. Seine Aufnahmen porträtieren einfache Menschen in einer Weise, dass ihre Würde trotz ihrer elenden Umstände sichtbar wird, wenn sie noch existiert. Und er weiß die vielen bizarren Szenen einzufangen, in denen Ruinen, Panzerwracks und dürftige Flüchtlingslager inmitten einer eigentlich ganz wunderbaren Landschaft von den abscheulichsten menschlichen Machenschaften zeugen. Die Druckqualität reicht leider nicht an die künstlerische Qualität heran.
Dieses Buch ist ein wirklich außergewöhnlicher Reiseführer, den jeder politisch Interessierte kennen sollte. Denn die darin vorgestellten Länder, vor allem aber die dort lebenden Menschen, haben das Vergessen nicht verdient.