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"Wie alt die Moderne sei, ist eine umstrittene Frage. Es herrscht keinerlei Übereinstimmung in der Frage der Datierung. Es herrscht keinerlei Konsens in der Frage, was datiert werden soll" schrieb Zygmunt Baumann in seinem Buch Moderne und Ambivalenz - und fügte damit dem unüberschaubaren Feld der Moderne ein weiteres Stückchen hinzu. In der Tat gibt es für den Begriff der Moderne zahllose Beschreibungen und damit verbundene Ansätze, die vom Verständnis als Epoche bis zur Bestimmung konkreter ästhetischer Merkmale reichen. Mit dem Begriff der Moderne geht also eine Vielzahl von unterschiedlichen Verstehensweisen einher, die teilweise gegeneinander, teilweise nebeneinander stehen.
Zu diesem Feld ist jetzt der von Sabina Becker und Helmuth Kiesel herausgegebene Band Literarische Moderne - Begriff und Phänomen hinzugekommen. Der Band versammelt 28 Beiträge von auf diesem Gebiet bereits profilierten Literaturwissenschaftlern, die vom 28. Februar bis 3. März 2006 als Vorträge auf einer Tagung an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg gehalten wurden. Auch die beiden Herausgeber sind bereits mit wichtigen Arbeiten zum Themenkomplex der Moderne an die wissenschaftliche Öffentlichkeit getreten. So beschäftigte sich Sabina Beckers Dissertation mit dem Zusammenhang von Urbanität und Moderne und Helmuth Kiesel publizierte 2004 eine Geschichte der literarischen Moderne.
Der Sammelband heißt Literarische Moderne, worin bereits angedeutet wird, dass es auch noch andere Modernen gibt, beispielsweise die rationalistische oder die zivilisatorische. Bei letzteren handelt es sich um gesellschaftliche Umbrüche, die von der Literatur kritisch beobachtet werden. Oder anders formuliert: Auch in der Abwendung, die beispielsweise der Ästhetizismus vollzieht, wird im Akt der Abwendung Bezug auf die Gesellschaft genommen. Wenn Paul Watzlawick feststellt, man könne "nicht nicht kommunizieren", dann ist das auch auf die Gesellschaft als Ort der Kommunikation zu denken. Literatur ist nur in ihrem gesellschaftlichen Bezug denkbar.
Der Beitrag der beiden Herausgeber ist der Versuch, das unübersichtliche Feld der Moderne-Forschung überblicksweise zu strukturieren - und er ist gelungen. In einer großartigen Dichte gelingt dem Aufsatz sowohl eine grundlegende, prägnante Einführung in die Komplexe der literarischen Moderne als auch eine Einleitung zu den nachfolgenden Aufsätzen mit ihren unterschiedlichen Positionen. Dabei wird nicht nur auf die Moderne als Epochen-, sondern auch als Stilbegriff eingegangen.
Die wissenschaftliche Genese des Begriffs der Moderne in der Germanistik, die eine derartige Differenzierung impliziert, analysiert Walter Erhart in seinem Aufsatz Die germanistische Moderne - eine Wissenschaftsgeschichte. Dabei rückt er den Beobachter - die Germanistik selbst - in den Vordergrund und inwieweit sich in dieser selbst Programme der Moderne wiederfinden und erhalten. Als Methoden diese Vorprägung zu vermeiden sieht er die Strömungen der Dekonstuktion, der Wissenschaftsgeschichte und der Systemtheorie. Damit ist der Band um eine wichtige Dimension der Selbstreflexion bereichert.
Eine Vielzahl von Forschungspositionen findet sich in den Beiträgen des Bandes wieder, von der zunehmenden Bedeutung des Sehsinns in der Moderne (Rüdiger Görner) bis zu einigen exemplarische Analysen literarischer Texte von Alfred Döblin und seinem Prinzip der Montage (Luca Renzi), Robert Musil und seinem senti-mentalen Konzept (Barbara Neymeyer) und Franz Kafkas Texten als Selbstbeschreibung künstlerischer Positionen (Günther Sasse). Diese Auseinandersetzungen versuchen unter dem zusammenfassenden Titel Leitfiguren der Moderne anhand dieser konkreten Autoren Umbrüche der Moderne zusammenzufassen und zu konturieren.
Das Überkapitel Ausprägungen der Moderne hingegen subsumiert unterschiedliche Epochenmodelle, vom Makrokonzept der Moderne mit Beginn der Romantik (Silvio Vietta) bis zu den Mikroepochen Décadence (Luca Crescenzi), Expressionismus (Thomas Anz) und Avantgarde (Walter Fähnders; Anette Simonis) und bietet auch einen Ausblick auf die Erben der Moderne im III. Reich (Walter Delabar), in der DDR (Wolfgang Emmerich) und BRD am Beispiel Wolfgang Koeppens (Peter Sprengel). Auch die Kontroverse von Moderne und Postmoderne versucht Moritz Baßler ambitioniert darzustellen, man mag seine Fixierung der Postmoderne auf Mythisierung und Kapitalismus teilen oder nicht.
Der vierte Teil widmet sich der oben bereits angesprochenen Bestimmung der Moderne als Sammelsurium ästhetischer Kriterien. Als diese sieht Erich Kleinschmidt beispielsweise die mobile und uneindeutige Lesbarkeit, Karl Prümm die an filmische Prinzipien erinnernde Wahrnehmung und Christian Schärf weist auf ein verändertes, modernes Verständnis der Autorschaft hin.
Zwei Feststellungen wurden bis hierher deutlich: Erstens handelt es sich bei dem, was die Germanistik als Moderne zu bestimmen versucht, um ein komplexes, widersprüchliches und unübersichtliches Konstrukt, woraus zweitens eine Vielzahl von komplexen, widersprüchlichen und unübersichtlichen Forschungspositionen herrührt. Dies spiegelt sich in vorliegendem Band deutlich, und so kann er kaum unter einem Standpunkt nach richtig/falsch oder gut/schlecht im Bezug auf einzelne Positionen rezensiert werden. Aber die Gesamtdarstellung und Vollständigkeit dieser Diversität lässt sich beurteilen - und in dieser liegt die Qualität des Sammelwerkes. Denn im Band Literarische Moderne - Begriff und Phänomen ist diese in ihrer Vielfalt dargestellt, ohne dass der Leser mit dieser Unübersichtlichkeit alleingelassen würde, dank der hervorragenden Einleitung. Und will man sich in einen bestimmten Bereich tiefer einarbeiten, so vermag man das aufgrund der Literaturangaben oder der übrigen Publikationen der jeweiligen Autoren problemlos. So dass für und gegen jede Position etwas enthalten ist. Das, was man bei einem solchen Gegenstand wie der Moderne eben als vollständig bezeichnen könnte. Eine Sammlung von Fragmenten.