Seit seinem Roman "Abschied von den Feinden" zählt der Berliner Schriftsteller Reinhard Jirgl zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern, von der Kritik gefeiert und mehrfach ausgezeichnet (unter anderem mit dem Alfred-Döblin-Preis). Zugleich ist er auch einer der problematischsten Autoren unserer Tage: formal sperrig, da er seine Texte durch Zeichen und Wortverfremdungen zerhackt, inhaltlich herausfordernd, da er einen oft nur schwer erträglichen Pessimismus pflegt. Seine Romane sind meisterhaft, aber schwer zu lesen; doch sie enthalten so viel Wahres und Kluges, dass andere deutsche Autoren bis zur Bedeutungslosigkeit verblassen.
Wer sich noch eingehender mit Reinhard Jirgl befassen will, wird erfreut diese Neuveröffentlichung aus dem Hanser Verlag registrieren. In "Land und Beute" finden sich Essays von Reinhard Jirgl aus den Jahren 1996 bis 2006. Jirgl beschäftigt sich darin mit Themen, die immer auch wieder in seinen Romanen auftauchen; etwa mit der Diktatur des Nationalsozialismus und ihr Fortwirken auf das heutige Deutschland, mit der DDR, die er als Ostdeutscher als lähmendes und menschenvernichtendes System erlebte, mit Berlin, jener Stadt, die immer wieder Schauplatz seiner Romane ist (zuletzt in "Abtrünnig"). Aber auch mit dem Schreiben an sich und seiner eigenwilligen Stilistik und Typographie setzt sich Jirgl auseinander, unter anderem in seiner Abhandlung zu Arno Schmidts Kurzroman "Die Umsiedler". Jirgl wagt es auch, sich dem umstrittenen, umkämpften, oft zum Klischee verkommenen Heimatbegriff anzunähern. Einfache Schlüsse liegen ihm dabei fern; in den Essays finden sich - wie auch in den Romanen - verblüffende Analogien und Abstraktionen. Jirgl zieht Schlüsse, wo man diese nicht vermutet, wagt sich in den Raum des Spekulativen und öffnet der Metadiskussionen Tür und Tor. Und so folgt der Leser manch klugem Gedankengang und stößt auf erstaunliche Erkenntnisse, etwa in dem Essay "Natur und Gegen-Natur", wo Jirgl das Prinzip des Internet-Links auf Literatur, Erinnerung, Zeit- und Raumwahrnehmung überträgt.
Wer den Autoren Jirgl schätzt, wird auch den Essayisten Jirgl schätzen. Selten wird auf so hohem Niveau über Sprache, Literatur, die deutsche Mentalität und ihre Abgründe reflektiert.