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Der Tolkien-Boom der letzten Jahre, ausgelöst durch Peter Jacksons erfolgreiche "Herr der Ringe"-Verfilmung, hält an. Ihm ist es zu verdanken, dass ein Buch wie dieses den Weg nach Deutschland findet: Tim Shippeys "Der Weg nach Mittelerde", eine umfassende Untersuchung von J.R.R. Tolkiens Werk. Shippey ist Literaturwissenschaftler, der lange Jahre den Lehrstuhl für Englische Sprache und Mittelalterliche Literatur in Leeds innehatte - wie einst Tolkien. Sein "Der Weg nach Mittelerde" ist zugleich eine Hommage und kritische Würdigung Tolkiens, und außerdem eines der wenigen Bücher, die sich auf hohem Niveau mit dem Phänomen Mittelerde auseinandersetzen. Dass ein solch komplexes Werk nicht in einem anglistischen Nischenverlag, sondern bei Klett-Cotta erscheint, ist bemerkenswert. Auf diese Weise werden nicht nur Experten, sondern auch Tolkien-Fans auf Shippey aufmerksam werden - und die Möglichkeit haben, einen völlig neuen Zugang zu Tolkiens Werk aufgezeigt zu bekommen.
Shippeys Untersuchung deckt eine große Bandbreite von Themen ab. Sein Ausgangspunkt sind die ersten Stimmen und Kritiken zum "Herrn der Ringe", der seit seiner ersten Publikation in den Jahren 1954 und 1955 Vorbehalten ausgesetzt war. Tolkiens Kühnheit, in Mittelerde eine gänzlich neue Welt mit eigener Historie und eigenen Mythen zu erschaffen und diese als eine Art symbolisches Präludium der irdischen Geschichte zu präsentieren, stieß auf den Widerstand der etablierten Literaturwissenschaft. Den Siegeszug des Buchs konnte sie jedoch nicht aufhalten. Warum das so ist, lässt Shippeys Untersuchung erahnen: Tolkien erzählte nicht nur eine fesselnde Geschichte, sondern brachte sein unglaubliches Wissen über Sprache und Geschichte, Traditionen und Mythen bei der Erschaffung von Mittelerde mit ein. Vor allem die Philologie, seine eigentliche Profession, nutzte Tolkien als Zugang zu seiner großen Geschichte des Ringkriegs; jeder Name hat bei ihm eine eigene Bedeutung, jeder fiktive Ort ist symbolisch und semantisch aufgeladen. Wenn Shippey den Leser auf eine Wanderschaft über Tolkiens Karte von Mittelerde mitnimmt (Kapitel 4), werden selbst die versiertesten Tolkien-Kenner ins Staunen geraten, wenn sie den Reichtum an Motiven, Verweisen, An- und Vorausdeutungen erkennen. Das von Tolkien erschaffene Werk wächst, je näher man ihm tritt.
Shippey lässt übrigens die kritischen Fragen an Tolkien keineswegs beiseite; er äußerst sich ausführlich zu den vielen Vorwürfen, die man Tolkien machte und macht: dass seine Ringtrilogie trivial sei, eskapistische Tendenzen habe oder unschlüssig zwischen Phantastik und Realismus hin- und herschwanke. Er nennt Tolkiens gewichtigste Kritiker, antwortet ihnen und widerlegt sie - denn bei allem sachlichen Verstand schlägt Shippeys Herz ohne Einschränkung für Mittelerde, was in jeder seiner Zeilen spürbar bleibt.
Übrigens würdigt Shippey im Anhang auch Jacksons Filmtrilogie und beurteilt sie überraschend wohlwollend. Hier weicht er auch von seinem sonst recht hohen wissenschaftlichen Duktus ab. Von dem sollten sich etwaige Leser übrigens nicht abschrecken lassen: Shippey schreibt anspruchsvoll, ohne je ins Trockene abzudriften, und sein Wohlwollen gegenüber Tolkien verleiht der Untersuchung eine persönliche Note. Dennoch bleibt "Der Weg nach Mittelerde" ein wissenschaftliches Werk mit zahlreichen Anmerkungen und Anhängen. Für Tolkien-Fans ein Muss, für literaturwissenschaftlich Interessierte eine Bereicherung - ein Buch, das jeder lesen sollte, der "Herr der Ringe" verschlungen hat.