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"Ein Kommissar, der tödliches Kopfweh hat, eine physikalische Theorie liebt und nicht an den Zufall glaubt, löst seinen letzten Fall. Ein Kind wird entführt und weiß nichts davon. Ein Arzt tut, was er nicht soll. Ein Mann stirbt, zwei Physiker streiten, ein Polizeiobermeister ist verliebt."
Der Klappentext dieses Hörbuchs aus dem Audio Verlag fasst treffend und gleichzeitig verwirrend zusammen, was in dieser Erzählung geschieht. Wer Juli Zeh kennt, der weiß um ihre besonderen Geschichten und wird hinter dem Prädikat "Krimi" auch keinesfalls bloß eine klassische Mörderjagd vermuten. Der Aufbau ist einfach grandios. Zunächst lebt das Buch von seinen Charakteren, als da wären: Sebastian und Oskar, zwei Physiker, alte Studienfreunde, die sich früher innig geliebt haben - auf rein platonischer Ebene -, die sich aber nun, bedingt durch unterschiedliche Ansichten und Lebensentwürfe, voneinander entfremdet haben. Dann wären da Maike, Sebastians schöne Frau, und der Arzt Dabbeling, der passionierter Rennradfahrer ist und ein Bekannter von Maike, die ebenfalls im Radsportverein ist. Liam ist der zehnjährige Sohn von Sebastian und Maike; er ist es, der verschwinden wird, wie ja schon dem Klappentext zu entnehmen ist.
Sebastian fällt daraufhin einer Erpressung zum Opfer: Er soll Dabbeling, der in einen Medizinskandal verwickelt ist, aus dem Weg räumen. An dieser Stelle kommen zwei weitere Charaktere ins Spiel: die ambitionierte, äußerlich unbeholfene Polizeikommissarin Rita Skura und der Titel gebende Kommissar Schilf. Für Schilf wird der Fall um den Physiker Sebastian sein letzter sein, denn in seinem Kopf hat sich ein tödlicher Hirntumor breit gemacht.
Allein schon die Beschreibungen der hier agierenden Personen zu verfolgen, ist ein Genuss. Hinzu kommt eine Handlung, elegant geschrieben und intelligent ausgedacht, die stellenweise wirklich verblüfft. Natürlich geht es hier nicht nur um die Krimihandlung - Entführung, Mord, Ermittlung - sondern auf weiteren Ebenen um Fragen der Schuld, um Zufall, furchtbare Missverständnisse, misslungene Experimente und Theorien der Physik. Der weltanschauliche Disput der beiden Physiker ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, der alles ins Rollen bringt und ohne den die Geschichte nicht funktionieren würde. Faszinierend böse wirkt es, wie Zufall und Hochmut in dieser Erzählung fast nebenbei eine Existenz zerstören.
Juli Zehs Art muss einem durchaus liegen, um dieses Hörbuch zu mögen. Wie in ihren anderen Romanen auch fordert sie Aufmerksamkeit und Mitdenken. Manche Formulierungen mögen etwas abgedreht sein und bemüht intellektuell wirken, doch insgesamt wirkt diese skurrile Erzählung wie eine schöne Melodie, die sich auch sprachlich angenehm vom Durchschnitt abhebt.
Häufig wird Juli Zeh zur Last gelegt, dass ihre Figuren viel zu gebildet und elitär seien, viel zu abgedreht, viel zu wenig von dieser Welt, siehe zum Beispiel in ihrem Roman "Spieltrieb". Und tatsächlich findet man in diesem Hörbuch kaum einen "normalen" Charakter - die Physiker sind exzentrisch, der Kommissar denkt auf ungewöhnlichen Wegen und so weiter und so fort, niemand bedient sich der Umgangssprache. Aber mal ehrlich - wer will denn in einem Roman von stinknormalen, alltäglichen Figuren lesen, die sich genauso verhalten wie der Durchschnittsmensch von nebenan? Der Plot mag konstruiert sein, die Figuren ungewöhnlich handelnd und denkend, aber es ist eine sehr reizvolle Konstruktion, die Zeh hier vor dem Hörer ausbreitet und die trotz aller "Verkopfheit" oft sinnlich wirkt.
Gelesen wird diese autorisierte Lesefassung von "Schilf" von Tatja Seibt. Frauen sind im Hörbuchgenre eher unterrepräsentiert - umso besser, dass hier zu einer Frauenstimme gegriffen wurde, denn Seibt liest ganz hervorragend. Ihre eher nüchterne Art und die Stimme, der man das Alter anhört - die Sprecherin ist Jahrgang 1944 -, holen auch sprachlich gewagte Sätze wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Fazit: Clever, grotesk und mit fein gezeichneten Charakteren - eine tolle Lesung eines eher ungewöhnlichen Kriminalfalls aus dem Wissenschafts-Milieu.