Unsere Art, Homo sapiens, steht am vorläufigen Ende einer langen Evolution, seit sich zwei Linien von Menschenaffenartigen vor rund sieben Millionen Jahren voneinander trennten. In diesem Zeitraum hat die Erde, vor allem Afrika, das Werden und Vergehen zahlreicher Hominiden-Arten erlebt; wie viele es waren, können wir noch nicht sagen: Häufig sind sich Forscher uneins, ob ein neuer Fossilfund zu einer neuen oder einer bereits dokumentierten Art gehört.
Diejenigen, die heute recht sicher als eigene Arten gelten können, werden in "Der lange Weg zum Menschen" vorgestellt. Eingangs kann der Leser anhand ganzseitiger Aufnahmen nachvollziehen, wie heute Schritt für Schritt aus einem Vormenschenschädel ein lebendig wirkendes Gesicht nachgebildet wird. Darauf folgen ein Vorwort des Lucy-Entdeckers Donald C. Johanson und eine Einleitung des ebenfalls bekannten Paläoanthropologen Ian Tattersall. Der Hauptteil umfasst sieben Abschnitte in chronologischer Abfolge, in denen die verschiedenen Hominidenarten innerhalb einzelner Kapitel vorgestellt werden. Beim ältesten präsentierten möglichen Vorläufer des Menschen handelt es sich um Sahelanthropus tchadensis, die jüngste Art sind wir selbst.
Das Nachwort stammt von der Paläoanthropologin Meave Leakey; ein ebenfalls sehr interessanter Bericht von G. J. Sawyer und Viktor Deak, deren Rekonstruktionen von Ur- und Vormenschen im Buch abgebildet sind, schließt sich an. Von Richard Milner stammt ein Aufsatz über Bilder, deren Motiv unsere Vorfahren darstellen.
Für Laien ist es schwierig, die sich oft überschlagenden neuen Entwicklungen in der Paläoanthropologie zu verfolgen und richtig einzuordnen, zumal es zwischen Forschern und Forschergruppen häufig Streitigkeiten gibt und Veröffentlichungen einander deshalb nicht selten widersprechen. Das Buch hält sich an die plausibelsten, durch die meisten beziehungsweise aussagekräftigsten Funde abgedeckten und möglichst aktuellen Theorien und diskutiert diese, wo es nötig erscheint. Denn zu vielen der neu entdeckten Arten sind die vorliegenden Kenntnisse noch zu lückenhaft, als dass man klare Aussagen treffen könnte. Die abwägende Art der Darstellung gehört zu den besonderen Qualitäten dieses sehr gehaltvollen Buchs.
Jeder Abschnitt beginnt mit einer kurzen Einleitung, die Hintergrundwissen zur jeweiligen Epoche, den Besonderheiten der Fossilbildung am Ort der Funde und vielem mehr anbietet. Es folgt eine Geschichte, die, ohne Anspruch an völlige Authentizität zu erheben, einen Ausschnitt aus dem Leben der porträtierten Arten nach dem aktuellen Kenntnisstand präsentiert. Daran schließt sich der Sachteil an, in dem der Leser detaillierte Informationen erhält: zu Schädel und Zähnen und den daraus möglichen Rückschlüssen auf die Ernährung, zu Skelett, Gang und Körperhaltung, zu den Fossilfundstätten und dem vermuteten Verbreitungsgebiet (von einer Karte veranschaulicht), zu einzelnen bedeutenden Funden, dem Alter der Art und gegebenenfalls der Herstellung und Benutzung von Werkzeugen. Das Aussehen wird, so weit möglich, ebenso abgeleitet wie Unterschiede zwischen Männchen und Weibchen und soziale Strukturen. Auch stellen die Autoren zeitgleich mit den jeweiligen Hominiden lebende Tierarten und das sie umgebende Ökosystem sowie das Klima vor, sie erläutern, wie es zur Klassifikation der Art beziehungsweise Funde kam, und vermitteln die Historie der Entdeckung. Sorgfältige Rekonstruktionen geben einen Einblick in die natürliche Umgebung der Arten und ihr wahrscheinliches Aussehen.
Obwohl das Buch eine Fülle an Informationen erhält, ist es keineswegs trocken verfasst, sodass die Lektüre sich abwechslungsreich und kurzweilig gestaltet; hierzu tragen natürlich auch die Geschichten und Abbildungen bei. Es lohnt sich darüber hinaus, die sehr informativen einleitenden und im Anhang befindlichen Texte renommierter Wissenschaftler und der Rekonstruktionskünstler zu lesen. Was fehlt, ist dann doch ein klassischer "Stammbaum", also eine Grafik, die veranschaulicht, wie und wann die vorgestellten Arten nach- und nebeneinander auftraten, und so die verwirrende Vielfalt in ein System bringt.
Als preisgünstig kann man das Buch nicht bezeichnen, doch rechtfertigt sich der Preis nicht nur durch die Qualität der Texte und Abbildungen, sondern auch durch die wirklich hochwertige, ansprechende Aufmachung. Ein spannendes, lehrreiches Buch für alle, die sich fragen, woher wir kommen.