Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Brutalität | |
Gefühl | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Spannung | |
Ton | |
Gedenkfeier mit Schweigeminute in der Aula des Lessing-Gymnasiums: Scheinbar gefasst erträgt der achtzehnjährige Oberstufenschüler und Ich-Erzähler Christian das "Requiem" für seine junge Englischlehrerin Stella Petersen. Chor und Orchester gestalten die Trauerfeier, der Rektor und weitere Lehrer sowie ein Schüler aus Christians Klasse halten Reden, und Christian erliegt der gewaltigen Anziehungskraft seiner Erinnerungen. Denn Stella Petersen war wesentlich mehr für ihn als eine Lehrerin, er verehrte die schöne, kluge und lebensfrohe junge Frau, und sie wurde für einige Sommerwochen seine Geliebte.
Anhand von Christians Rückblenden verfolgt der Leser beziehungsweise Hörer die Geschichte dieser scheinbar unmöglichen Liebe, die beginnt, als Stella sich kurz vor den Sommerferien mehr zufällig für Christians Arbeit interessiert; der Junge hilft seinem Vater, einem Steinfischer, gewohnheitsmäßig beim Ausbessern der alten Wellenbrecher an der heimischen Nordseeküste. Die beiden kommen einander näher und verlieben sich. Es folgt eine kurze Zeit voller Heimlichkeiten - denn natürlich darf die verbotene Liebe nicht auffliegen - und so viel Ungesagtem während der immer viel zu kurzen gemeinsamen Zeit, ein Glück, dem immanent der Schmerz und die Sehnsucht nach einer offensichtlich verwehrten gemeinsamen Zukunft innewohnen.
Bei Sturm wird dem Segelschiff, auf dem Stella mit Freunden unterwegs ist, ein von Christian und seinem Vater platzierter Stein zum Verhängnis. Stella erliegt den schweren Kopfverletzungen, die sie sich beim Sturz vom Schiff zuzieht.
Mit "Schweigeminute" hat Siegfried Lenz eine außergewöhnlich zarte Liebesgeschichte verfasst, die nicht nur aufgrund der Alterskonstellation der Protagonisten den Konventionen widerspricht. Die üblichen Erwartungen an eine spannende, von steilen Höhen und Stürzen geprägten "Story" werden in dieser Novelle definitiv nicht erfüllt. Dafür lädt der Autor zum Eintauchen in eine emotionale Tiefe ein, wie man sie auch in hochwertiger Belletristik nur selten findet.
Fast unbemerkt wandelt sich das Empfinden von einer recht kumpelhaften Lehrerin-Schüler-Beziehung hin zu einer Liebe, leidenschaftlich-ungestüm und bedingungslos vonseiten des jungen Mannes, abwägend-zögerlich, was die realistische, reifere, bereits etwas mehr lebenserfahrene Lehrerin angeht. Wo er intensiv ganz konkrete Pläne für eine gemeinsame Zukunft schmiedet, versucht sie, möglichen Schaden vorab zu begrenzen. Der Wucht der gegenseitig erwiderten Gefühle vermag sie sich jedoch nicht zu widersetzen.
Schwer lastet der Tod über der gesamten Erzählung. Er verbindet die Handlungsstränge, jene für Christian qualvolle Veranstaltung in der Aula der Schule und die Kette seiner Erinnerungen an die kurze, so intensive gemeinsame Zeit mit Stella, die Heimlichkeiten, die Leidenschaft, die für immer unerfüllten Sehnsüchte.
Es ist das Warum, das in der Novelle seltsam unklar bleibt: Was finden die beiden aneinander? Der Schüler verehrt die attraktive und kluge, jugendliche Lehrerin, gut. Doch was empfindet sie für ihn, den eher durchschnittlichen Schüler, der die wesentliche Botschaft in "Animal Farm" von George Orwell nur ansatzweise begreift? Dies erschließt sich nicht ohne Weiteres. Und doch scheint er für sie mehr als nur ein flüchtiges Ferienabenteuer zu sein.
Mehrere Kreise schließen sich im Verlauf dieser Novelle; zu den Geniestreichen des Autors gehört es, dass ein vom Ich-Erzähler gesetzter Stein letztlich Stellas Unfall verursacht.
LenzÂ’ Novelle ist alles andere als spektakulär. Der Autor nimmt sich zurück, seine Präsenz ist allenfalls im Hintergrund zu erahnen. Schlicht, auf das Innerliche konzentriert, erzählt er eine zeitlos schöne Liebesgeschichte aus den 1970er-Jahren, die gerade wegen der zurückhaltenden, an die Erfahrungen und Gefühle des Lesers oder Hörers appellierenden Art der Schilderung an Dramatik kaum zu übertreffen ist. Das Nebeneinander von höchstem Glück und abgrundtiefem Schmerz haben die meisten von uns schon erlebt. Aber es wurde wohl kaum einmal so eindringlich in Worte gefasst.
Der Sprecher Konstantin Graudus versteht es, die Tiefe der Novelle für den Hörer erspürbar darzustellen: Die Hörbuchedition in ihrer klassisch-schlichten Aufmachung ist eine gelungene Alternative zur Print-Ausgabe.