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 Wiener Arbeiten zur Literatur, Band 21: Vergessene Bestie

Der Werwolf in der deutschen Literatur


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Er hat sich seinen Platz an der Seite von Dracula und Frankensteins Monster erobert und ist heute aus der phantastischen Literatur und dem Horrorfilm nicht mehr wegzudenken: der Werwolf. Doch auch in der Hochliteratur hat er gelegentlich einen Auftritt zu verbuchen, Titanen der deutschen Literatur wie Goethe und Grillparzer haben auf diese Figur zurückgegriffen, mit welcher man heutzutage animalische Gier und einen sexuellen Hautgout verbindet. Dennoch: Die Zahl seiner Darbietungen in literarischem Gefilde hält sich - so scheint es - in Grenzen, ganz im Gegensatz zur phantastischen Literatur, wo der Werwolf ein oft anzutreffender Akteur ist. Die Tatsache, dass sich mit Christian Stiegler erst ein Germanist des 21. Jahrhunderts der Werwolffigur in der deutschen Literatur annimmt, mag einerseits aufgrund der scheinbaren Allgegenwärtigkeit der Gestalt überraschen, gleichzeitig aber wegen ihres trivialen Beigeschmacks wiederum kaum verwundern. Dass eine solche Studie jedoch längst überfällig war, darauf verweist Roland Innerhofer, Dozent für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien mit Forschungsschwerpunkt u.a. auf der phantastischen und utopischen Literatur, in seinem Vorwort zu "Vergessene Bestie".

Stiegler unterteilt seine Diplomarbeit in drei große Abschnitte: Im ersten Teil geht er auf einer historischen Spurensuche bis in die Antike zurück, um dem Leser die geschichtliche Tiefe der Werwolfgestalt vor Augen zu führen und festzustellen, wann und wie sich das Motiv des Werwolfs in der - nicht nur deutschen - Literatur verändert hat. Von Herodot und Ovid über Aurelius Augustinus und Marie de France bis Stephen King und Markus Heitz gibt der Autor einen knapp gefassten Abriss über den Wandel der phantastischen Gestalt in der Literaturgeschichte, wobei zu einem besseren Verständnis außerliterarische Einflüsse wie die Hexen- und Werwolfverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts, der von Epoche zu Epoche variierende Umgang mit Lykanthropie oder die politische Einvernahme des Werwolfs durch den Nationalsozialismus mit der literarischen Metamorphose der Figur in einen vergleichenden Kontext gesetzt werden. Tieferen Ausführungen dieser außerliterarischen Faktoren widmet sich der Wiener Germanist jedoch erst im dritten Teil des Buches, im ersten Abschnitt wird nur eine grob gehaltene Übersicht präsentiert, um den Leser mit dem Verlauf des Wandels, den der Werwolf erfahren hat, vertraut zu machen.

Der erste Teil von "Vergessene Bestie" liefert dem Leser ohne Frage einen informativen Überblick, doch kann über gewisse Lücken einfach nicht hinweggesehen werden. So werden in dieser historischen Spurensuche Beispiele etwa aus der französischen und angloamerikanischen Literatur wie auch von griechischen und römischen Schriftstellern zitiert, doch deutsche Vertreter bleiben ungenannt. Die Begründung des Autors, es gäbe für den Werwolf als literarische Figur - anders als im Falle des Vampirs oder des künstlichen Menschen - keinen Vorzeigetext, auf den sich spätere Werke stets zu stützen wissen, erscheint ebenso fadenscheinig wie - plakativ ausgedrückt - lächerlich; schließlich werden mit Vergil und King auch keine Vorzeigetexte zitiert. Dadurch wird der Eindruck vermittelt, die deutsche Literatur müsse sogar isoliert von anderssprachigen Texten betrachtet werden.

Wie schon erwähnt, geht Stiegler im zweiten großen Abschnitt von "Vergessene Bestie" nun konkret auf jene literarischen Vertreter im deutschen Sprachraum ein, in deren Werken die Gestalt des Werwolfs eine Verarbeitung gefunden hat. Er wählt allerdings - und das zum Vorteil seiner Studie - keine chronologisch angelegte Untersuchung von den Brüdern Grimm bis H.C. Artmann, sondern analysiert den entsprechenden Textkorpus nach unterschiedlichen Kategorien wie metaphorischer Verwendung, Verwandlungsdarstellungen und -elementen u.ä. Außerdem zieht der Germanist lobenswerterweise nicht allein die Hochliteratur zur Interpretation heran, auch die phantastische Literatur kommt zum Handkuss. Bevor nun Anhänger von Hohlbein, Heitz & Co. aufspringen und mit 22,90 Euro in der Hand zur nächsten Buchhandlung eilen: Stiegler grenzt das Inventar der phantastischen Primärliteratur vorwiegend auf Romane und Kurzgeschichten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ein - durchaus verständlich, ist die Flut an phantastischer Massenliteratur heute doch kaum noch zu überblicken. Stattdessen darf sich der Leser auf - zum Teil in Vergessenheit geratene - Texte früher phantastischer Autoren wie Karl Hans Strobl, aber auch auf die Ausflüge von Autoren der Hochliteratur wie Werner Bergengruen in die phantastischen Gefilde freuen.

Die Rechtfertigung des Autors für eine getrennte Untersuchung von Hoch- und phantastischer Literatur ist nachvollziehbar, doch begeht er nicht den Fehler die Ergebnisse isoliert voneinander zu betrachten; auch wenn Stiegler eine klare Trennung zwischen beiden Bereichen der Literatur vertritt, so dies lediglich, weil die Gestalt des Werwolfs in der Hochliteratur vollkommen anders wahrgenommen wird als in den phantastischen Werken und die Analyse somit nach völlig anderen Prioritäten erfolgen muss. Dem Buch zum Vorteil gereicht auch die Herangehensweise des Germanisten an die Werwolffigur: Er konzentriert sich nicht allein auf den "tatsächlichen" Wolfsmenschen, sondern erweitert den analytischen Blick auch auf den Wolf und wölfisches Verhalten im Allgemeinen in der deutschen Literatur, womit einigen Werken ein vollkommen neuer Aspekt abgewonnen werden kann.

Der dritte und letzte Teil der vorliegenden Studie widmet sich in größerem Umfang den außerliterarischen und intermedialen Einflüssen, welche die Gestalt des Werwolfs in der Literatur ausgebildet und negativ geformt haben. Auf die Rolle der so genannten Freak Shows in der Viktorianischen Ära wird ebenso eingegangen wie auf jene der Lykanthropie, der Hexen- und Werwolfverfolgungen des 16. und 17. Jahrhundert und der christlichen Metaphorik des Mittelalters, aber auch auf die politische Einvernahme des Werwolfs im Dritten Reich. Wichtig zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass sich Stiegler gottlob nicht mit einer bloßen Aufzählung dieser außerliterarischen Faktoren begnügt, sondern die Wechselwirkung zwischen diesen und der Literatur anhand konkreter Beispiele erläutert. Abschließend zeigt er intermediale Einflüsse am Beispiel des Horrorfilms auf.

Im Großen und Ganzen stellt "Vergessene Bestie" eine ebenso interessante wie informative Studie dar, doch leidet sie an vielen Kinderkrankheiten, die durch eine akkurate Überarbeitung hätten vermieden werden können. Neben den schon genannten Fauxpas muss der Autor auch für die Tatsache gerügt werden, dass er es mit dem wissenschaftlichen Arbeiten stellenweise nicht allzu genau nimmt, wenn etwa gelegentlich aus der Sekundärliteratur ohne Quellenangaben zitiert wird. Auch scheint Stiegler mit den Regeln der Beistrichsetzung auf Kriegsfuß zu stehen, hier hätte das Lektorat des Verlags eingreifen müssen.

All diese Mängel können aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass mit "Vergessene Bestie" ein größtenteils gelungener Kommentar zum Werwolf in der deutschen Literatur vorliegt. Interessierten, die sich durch die Rezension nicht haben abschrecken lassen, sei der Titel durchaus empfohlen.

Michael Höfel



Taschenbuch | Erschienen: 1. März 2007 | ISBN: 9783700315988 | Preis: 22,90 Euro | 171 Seiten | Sprache: Deutsch

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