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Bei den meisten Graffiti handelt es sich um kurze Signaturen, die von der Sorte Bürger, die der Sprayer provozieren möchte, gemeinhin als eine Art Reviermarkierung, nicht unähnlich der von Hunden praktizierten Methode, betrachtet werden.
Anders sieht es aus, wenn Sprayer einzelne Waggons oder ganze Eisenbahnzüge kunstvoll und aussagestark gestalten. Sie schaffen dann Kunstwerke, die nur kurze Zeit Bestand haben werden, und zu ihren Herausforderungen gehört es, diese Züge unterwegs auf Fotos festzuhalten, denn sonst ist die nicht dokumentierte Arbeit nach der zumeist rasch erfolgten Reinigung für alle Zeit verloren.
Solch aufwändige und geistvolle Werke mit künstlerischem Anspruch werden durchaus positiv rezipiert, nicht nur von den Sprayern nahe stehenden Gruppierungen der Bevölkerung.
Der hier besprochene Bildband zeigt eine Fülle solcher bemalter, vielmehr besprayter Züge beziehungsweise Waggons aus ganz Europa und mehreren Jahren. Von Stockholm bis Rom, von London bis Moskau wurden Bahnen fotografiert, die ganz unterschiedliche Motive tragen. Da findet man Comics mit Anleihen aus den Simpsons, Walt Disney und sonstigen berühmten Vorbildern, plakative und eher subtile politische oder soziale Botschaften in Wort, Bild oder beidem, so genannte Typograffiti, in denen der einzelne Buchstabe zur Kunst wird, Abbildungen von wilden Tieren, offene sexuelle Anspielungen und vieles mehr.
Manche der Sprayer - oder Künstler, wie man es nimmt - beziehen Elemente der Waggons, zum Beispiel die Türen, mit ein, und treten entweder durch ihre Motive und deren Gestaltung oder auch durch Effekte, die etwa beim Öffnen und Schließen der Türen erzielt werden, in einen unmittelbaren Dialog mit den Betrachtern.
Begleitende Texte, vielfach von Sprayern selbst, aber auch von beruflich mit Kunst befassten "Außenstehenden", führen in die Welt des "Action Painting" ein und verhelfen dazu, einen Überblick über Motivation und Methoden sowie über den künstlerischen Anspruch zu erhalten. Diese Texte liegen übrigens nur auf Englisch vor, erfordern jedoch außer dem üblichen Schulenglisch keine ausgeprägten Sprachkenntnisse.
Selbst eingefleischten Graffitihassern dürfte dieses Buch Respekt abnötigen. Man mag zu der hier thematisierten Form der Sachbeschädigung und deren Würdigung in einem Bildband stehen, wie man will: Die in "Action Painting" abgebildeten Werke, perfekt an die Unterlage beziehungsweise das sie transportierende Medium angepasst, haben alle etwas Einzigartiges, und sei es die ihnen innewohnende Vergänglichkeit. Sie repräsentieren jeweils ein bestimmtes Lebensgefühl, setzen sich mit Kultur und Gesellschaft oder mit der Persönlichkeit des Sprayers und seinem Publikum auseinander.
Sprayer erzählen von den Risiken, denen sie bei der "Arbeit" und auch bereits bei der Annäherung an das Objekt der Begierde ausgesetzt sind, von dem, was sie an- und umtreibt, und ihrer Beziehung zu ihren Werken, von denen sie wissen, dass sie keinen Bestand haben werden - höchstens in Form von Fotos. Oft erhalten sie Gelegenheit, eigene Werke zu erläutern und zu interpretieren.
Andere Texte berichten, wie die Welle des Zugbesprayens nach Europa überschwappte und sich dort ausbreitete und wie sie im soziokulturellen und künstlerischen Kontext zu bewerten ist.
Die zahlreichen Bilder sind überwiegend von bemerkenswert guter Qualität, was erstaunt angesichts der Tatsache, dass es sich zu einem erheblichen Teil um riskante Schnappschüsse handelt, die wohl kaum mit einer Studioausrüstung vorgenommen werden konnten.
Dem Leser und Betrachter, der sich un- oder positiv voreingenommen diesem Thema widmen kann und möchte, bietet das attraktiv aufgemachte Buch tolle Unterhaltung und erstaunlich tiefe Einblicke in eine Außenstehenden zumeist verschlossene Welt, und das zu einem wirklich akzeptablen Preis.