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Am 27. März eines jeden Jahres beginnt die Reise von Erwin Siegelbaum. Unzählige Stationen liegen auf seiner Reise in den Norden und wieder zurück. Doch nur zweiundzwanzig Orte sind ihm wichtig.
Er besteigt um sieben Uhr morgens den Frühzug in Wirbelbahn, wo er zwei Wochen zuvor eintraf. Dort wurde er vor 40 Jahren aus einem Wagon befreit. Nach drei Stunden hält der Zug in Prachtdorf. Hier lernte er Bella kennen und lieben, verließ sie aber nach wenigen Tagen und kehrte nicht wieder zu ihr zurück. Obwohl nie wieder ein Mensch ihn so genau kannte wie Bella, konnte er ihr Schweigen nicht ertragen. Wenig später erreicht er Herben. Marcello holt ihn am Bahnhof ab und fährt ihn in ein Hotel. Einzig das Bad dort lässt ihn jedes Jahr am fünften April um halb vier Uhr nachmittags in das Taxi von Marcello steigen. Doch die Erinnerungen an seine Mutter lassen ihn nach einem Tag weiter reisen. Einmal blieb er länger, doch diesen Fehler begeht er nie mehr. Er flieht vor dieser fernen Vergangenheit nach Salzstein. Zwei Stunden kehrt er bei Gysi ein, ehe er weiter reist. In Hohensalzstein besucht er am ersten Mai den Genossen Stark. Nach zwei Tagen in der einsamen Berghütte ist die Vergangenheit wieder lebendig. Doch länger ist sie nicht zu ertragen und Siegelbaum reist weiter. Stark begleitet ihn zur Tür und Siegelbaum ist sich gewiss, dass es das letzte Mal sein wird. Stark ist alt geworden. Ich muss meine Aufgabe erfüllen, ich muss Nachtigel, den Mörder finden, sagt Siegelbaum wie jedes Jahr zu Stark, ehe er geht.
Immer mehr Orte, die früher Gelegenheit zum Halt boten, sagen Siegelbaum nichts mehr. Die Menschen, die den Aufenthalt lohnten, leben nicht mehr oder haben erfahren, dass er Jude ist, und sind nicht mehr dieselben. Auch in Grünfeld bleibt er im Zug und fährt weiter nach Pracht. Nur dort verlassen ihn seine Alpträume und sein Körper hört auf zu rebellieren. Dort lebt irgendwo verborgen durch die Weite der Landschaft und das Vergessen der Menschen der Mörder seiner Eltern. Dort wird er Nachtigel finden.
Auf zwei Ebenen hat Aharon Appelfeld seinen Roman komponiert. Vordergründig erzählt er in einem wundervoll einfachen, sehr eindringlichen Stil die Geschichte eines Holocaust-Opfers, das mit seinem Leben nach dem Untergang allen Menschlichens nichts mehr anzufangen weiß. Er flieht. Von einem Ort zum nächsten, immer auf der Reise, nie anlangend, nie verweilend, immer das Vergessen vor sich und die Erinnerung hinter sich. Vordergründig ist er auf der Suche nach dem Mörder seiner Eltern und flieht doch 40 Jahre lang vor ihm und seinesgleichen. Dies gelingt Appelfeld perfekt. Er nimmt den Leser mit auf diese Reise. Durch die Landschaft und ins Innere eines Juden, der sein Judentum nicht wahrhaben will und es nach außen hin verleugnet.
Grandiose Sätze formen ein tristes und melancholisches Bild. Und zugleich das Bild eines wahren Menschen, der Frieden und Wärme sucht und sie doch immer nur für wenige Stunden in wahrer Vollkommenheit spürt, ehe die Vergangenheit und die Gegenwart ihn wieder einholen.
Diese Ebene ist ein Meisterwerk und sehr lesenswert. Als Deutscher, der erst 1964 geboren wurde und der den Holocaust aus Büchern, der Schule und vielen Zeitungen aus zweiter und dritter Hand dargereicht bekam, ist diese Ebene des Romans ergreifend und wahrhaftig, führt zu einer geringeren Distanz zu den Opfern als zuvor und vermittelt dieses Einzelschicksal auf das härteste.
Die zweite Ebene ist die Geschichte eines Volkes, das vernichtet werden sollte, vom Schafott heruntergeholt und im Regen stehen gelassen wird. Allein mit sich und der erdrückenden Vergangenheit. Allein unter Menschen, die eine andere Gegenwart mit ihm teilen, eine andere Zukunft erhoffen können und mit denen er nicht kommunizieren kann. Die Geschichte eines Volkes, das niemand haben will, dem es nicht zur Ehre gereicht, dass es "davongekommen" ist, sondern dem manche, wenn gar nicht alle es übel zu nehmen scheinen, dass es so weiterleben kann.
Die Ebene der Diaspora, der Existenz in der Fremde, der geografischen Fremde und der inneren Fremde ist um so eindringlicher und krasser, je stärker Appelfeld sie nicht thematisiert. Seine wahre Kunst besteht darin, dass er diese Ebene, wie von einem gewaltigen Blitz erhellt, aus ihrem Schatten heraus darzustellen vermag. Seine für mich tiefgreifende Erschütterung legt er offen, indem er die Umgebung, die Menschen ringsumher, als Spiegel verwendet. Indem uns Appelfeld diesen Spiegel zeigt, in all seiner Härte und all seiner Erbarmungslosigkeit, gelingt es ihm, den inneren Holocaust eines ganzen Volkes offen zu legen.
Ich als Nicht-Jude, als Atheist und Deutscher bin zutiefst beeindruckt von der Fähigkeit Appelfelds, eine literarische Ausdrucksform gefunden zu haben, die das Schicksal eines ganzen Volkes für mich (ein Stück weit) erfahrbar macht.
Dieser Roman ist keine Vergangenheitsbewältigung, sondern ein Mahnmal wider das Vergessen. Insofern sei er jedem Menschen ans Herz gelegt, der erinnert werden will.