Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Brutalität | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Spannung | |
Für die heutigen Schüler und Studenten sind sie bloße Geschichte: die Ereignisse 1988/89, die zur Wende führten. Sie haben nicht die Bilder vor sich: die Ausreisenden über Ungarn, Prag, die Öffnung der Mauer, der Aufbruch vieler in den Westen ...
In Rainer J. Hochers Roman-Tagebuch geht es um das Lebensgefühl derer, die dem DDR-System, dem real existierenden Sozialismus, kritisch gegenüber standen, es geht um individuelle Erfahrungen, eingebettet ins Kollektive.
Das Tagebuch (1988/89) enthält in Kollageform Erfahrungen, Meinungen, Dokumente, Gedichte und Briefe.
Die sachliche Wiedergabe überwiegt jedoch. So wird der Eindruck von Authentizität verstärkt. In den amtlichen Schreiben der DDR-Behörden kann man keine lyrische Sprache erwarten. Anders, wenn es um persönliche Beobachtungen des Autors geht, der bereits in mehreren Bänden als Lyriker hervor getreten ist.
Bei der Schilderung von Geschehnissen im eigenen Garten wird die Sprache rhythmisch, bildhaft und manchmal metaphorisch:
"Steinharter Boden zeigt Risse. Der Wurm steckt tiefer."Wie tief der Wurm - nun bezogen auf das politische System - steckt, erfährt man aus der Sicht eines Facharbeiters und Familienvaters, dem der Sozialismus nicht gleichgültig ist, der aber die Worthülsen der Machthaber an der real existierenden Wirklichkeit misst.
Immer wieder wird das Gefühl des Eingesperrtseins (die Reden Honeckers vom antifaschistischen Schutzwall greifen nicht mehr) thematisiert. Immer wieder berufen sich die Ausreisewilligen auf die KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Helsinki), in der die DDR-Regierung Freizügigkeit garantiert hatte. Aus eigener Erfahrung kann der Autor von Missständen bei der Produktion berichten: Kostspieliges Warten auf Geräte, Selbstbedienung am Bau und vieles andere mehr. Als der Ausreiseantrag gestellt ist, wird die Familie Opfer von Bespitzelung. Der Tochter wird so unter anderem die Fortsetzung ihrer Berufsausbildung verwehrt.
Rainer J. Hocher berichtet, legt Teile des Legalen Weges Autorenkollegen zur Beurteilung vor und druckt die Briefkritiken im Tagebuch ab. Sie enthalten weitgehend keine Beurteilung der Manuskripte nach formalen Gesichtspunkten. Vielmehr kritisieren die Kollegen eine nach ihrer Meinung falsche Sichtweise des Autors, dem unter anderem mangelnde Einsicht in den mörderischen Charakter des Imperialismus vorgeworfen wird. Auch das sogenannte Widersprüchliche in der Denkweise wird aufgezeigt. Wie kann jemand, der den Thälmannprozess in Düsseldorf brandmarkt, in den Westen wollen?
Aus heutiger Sicht erscheint wichtig, dass die Gründe für die mehrfach wiederholten Ausreiseanträge nicht in erster Linie in einer möglichen materiellen Besserstellung lagen sondern im Wunsch nach Selbstbestimmung, die in einem Land verwirklicht werden konnte, das nicht, der DDR Propaganda entsprechend, als Ausland angesehen wurde. So führte der legale Weg nicht ins Ausland, sondern in den anderen Teil Deutschlands.
Individuelles steht neben Kollektivem - gerade diese Spannung macht die Besonderheit des Buches aus. Wie kann der Einzelne sich einer irgendwie gearteten Propagandamaschine entziehen, wie kann er sich eine eigene Position schaffen, eine selbständige Meinung bilden? Um diese Frage und nicht nur um anschaulichen Geschichtsunterricht für nachfolgende Generationen geht es in diesem Roman-Tagebuch.
Das Manuskript wurde lange Zeit in einem Bienenstock aufbewahrt, wurde später hinter einer Holzwand versteckt und lag dann in Kalletal-Stemmen, in weiterer Umgebung von Bielefeld, auf einer Anrichte. Nun wird es nach siebzehn Jahren der Öffentlichkeit übergeben. Gut, dass dieser Schritt endlich gelungen ist.