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Peter Handke dringt vor allem dann ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, wenn er sich zu Vorgängen auf dem Balkan äußert. Meist stellt sich dann, wie im März 2006, als er die Grabrede für Slobodan Milosevic hielt, die erwartbare Reaktion einer Literatenschelte ein, man könne doch nicht einen Kriegsverbrecher/das Land eines Kriegsverbrechers/ein Land voller Kriegsverbrecher ... gutheißen und unterstützen. Und liest man "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder "Gerechtigkeit für Serbien" sowie den Nachtrag zur winterlichen Reise, scheinen diese Kritiker beinahe Recht zu haben, nehmen die Texte es sich geradezu zur Prämisse nicht objektiv, sondern subjektiv, wertend zu erzählen, und zwar subjektiv und wertend für ein Land voller Kriegsverbrecher. Doch so einfach, wie die Kritiker und Polemiker es sich machen, liegt die Sache mit Handkes Balkan-Texten nicht, das wird gerade auch an seiner aktuellen Erzählung "Die morawische Nacht" deutlich. Denn zwischen literarischer und realer Realität klafft ein tiefer Spalt, den die Kritiker und Polemiker übersehen, den Handke allerdings regelrecht zelebriert und um den ein Großteil seines Schaffens kreist.
Zu Beginn der Erzählung nimmt ein Ich-Erzähler den Leser an die Hand und geht mit ihm auf ein Hausboot eines Ex-Autors, der zwar nicht mehr schreibt, aber in der folgenden, titelgebenden morawischen Nacht erzählt, die an die Erzählsituation aus 1001 Nacht angelehnt ist. In der Nacht, in der die Reiseerlebnisse des Ex-Autors erzählt werden, wechselt die Perspektive ständig und ansatzlos zwischen verschiedenen Erzählern, die fragen, ergänzen, widersprechen. Damit wird das Erzählte als eine Möglichkeit, nicht als eine Wahrheit dargestellt und geradezu zur Kritik an einer sonst gottähnlichen Erzählerinstanz aufgefordert. So heißt es grundiert von diesem Zweifel: "Aber das spielte doch jetzt eindeutig nur in des Erzählers Phantasie? Es war eine Tatsache, beschied er unserem Zwischenfrager. Phantasie? Und wenn. Und warum nur?" Damit tritt jene Kluft zwischen den beiden Realitäten hervor.
Seine Reise führt den Ex-Autor durch Europa, an Orte, die bereits aus anderen Texten Handkes bekannt sind, und ebenso werden Figuren erwähnt, die schon in anderen Texten vorkamen. Beinahe scheint es, als würde Handke an einem endlosen Text weiterschreiben, der nicht abreißen darf. Und das Gravitationszentrum dieser erzählten Welt ist die Utopie des Balkans. Utopien sind, wie Michel Foucault in seinem Text Andere Räume schrieb, "Platzierungen ohne wirklichen Ort", der utopische Balkan ist nicht an den geographischen Balkan gebunden. Handkes Balkan ist ein Modell des Widerstandes gegen die Moderne und die Monopolisierung des Denkens, ein Raum, den die Moderne noch nicht partikularisiert hat, in dem noch Gemeinschaft erfahren werden kann. Oder anders formuliert: Redet Handke über den Balkan, so redet er eigentlich über die Wert- und Meinungsnivellierung in Europa, kritisiert aus der Distanz den Verlust von Gemeinschaft.
"Die morawische Nacht" unterläuft dabei den hier beschriebenen Interpretationsversuch, indem der Text die Kritiker-, Leser- und Autorenrolle wiederum in sich aufnimmt und in einer Polyvalenz auflöst. Der Ex-Autor schreibt nicht mehr, er erzählt nur noch und er wird nach der Hälfte der Erzählung nicht mehr als Ex-Autor, sondern nur noch als Wanderer bezeichnet. Wie auch der Text selbst scheint das Reisen der Figur nur ein orientierungsloses, suchendes Mäandern im endlosen Text zu sein, der fortgeführt werden muss wie auch Scheherazde immer weiter erzählen muss. Eine Suche nach der Insel, auf welcher der Ex-Autor sein erstes Buch schrieb, eine Suche nach der Heimat des Vaters, eine Suche nach dem Grab der Familie - eine Suche nach Geschichte. Und auch dies ist wiederum zu Verstehen als Widerstand gegen die Geschichtslosigkeit der Gegenwart, gegen die eine poetische Gegenwelt entworfen wird.
Es sind diese Überlegungen, die Handkes Erzählung interessant machen, es ist die zweite, hinter der im unmittelbar Beschriebenen liegende Schicht. So bleibt eines festzuhalten: Was man von dieser Form der Kritik hält, bleibt wie immer dem Leser überlassen, und damit auch die Entscheidung, ob man die Methode der Projektion einer Utopie in den Balkan glücklich findet. Doch sollte man diese Form und Methode zuvor versuchen zu begreifen. "Die morawische Nacht" bietet dafür einen großartigen Ansatzpunkt und ist dabei eines der besten Werke Handkes.
Auch die Position des Nicht-Verstehen-Wollens der Kritiker findet sich in Handkes Text wieder. Der Journalist Melchior veröffentlicht einen Bericht über die Reise des Ex-Autors, des Wanderers, den dieser auf einer Busreise zufällig liest. Die Reise sei nur eine Flucht, heißt es dort, er verschließe seine Augen vor der Realität, wo "ernstzunehmenden" Autoren die "Probleme der Gegenwart auf der Seele" brennen würden: "Nirgends zeigt er ein Herz für seine Zeitgenossen." Dass eine derartige Beschreibung Handke nicht gerecht wird, sollte deutlich geworden sein, denn "Die morawische Nacht" verhandelt die fundamentalen Probleme der gegenwärtigen
condition humaine. So endet diese Passage im Buch auch mit der ironischen Anmerkung: "(Gleich unter dem Artikel dann das Tageshoroskop mit dem ihn anders betreffenden Satz: Sorgen Sie für Frieden.)"