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Digitale Medien sind aus unseren Haushalten und nicht zuletzt auch aus den Kinderzimmern nicht mehr wegzudenken. Waren es vor wenigen Jahrzehnten noch die Fernseh- und Telefonverweigerer, die als Ewiggestrige diffamiert wurden, so sind es heute jene, die auf PC, iPod, Spielkonsole & Co. verzichten. Und auch Schulen, sogar bereits Kindergärten setzen PCs in großem Umfang ein. Kinder und Jugendliche pflegen Online-Kontakte und weniger reale Freundschaften.
Wie sich das auf eine Generation auswirkt, die nichts anderes kennen gelernt hat, wird ausgesprochen kontrovers diskutiert – wenn es denn zur Sprache kommt, weil wieder einmal ein Jugendlicher Amok gelaufen ist und dies über Facebook angedroht hat, nachdem er seine tägliche Dosis Ballerspiele konsumiert hat (die Spur Polemik sei der Rezensentin verziehen). Hier werden von allen Seiten reichlich Kinder mit dem Bade ausgeschüttet, eine sachliche Diskussion bleibt hingegen aus.
Manfred Spitzer, Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, geht sehr kritisch mit den digitalen Medien ins Gericht. In seinem Buch "Digitale Demenz" erläutert er, wie sich das Gehirn von Kindern und Jugendlichen "normalerweise" – also ohne digitale Medien - entwickelt und wie das des Erwachsenen funktioniert, wobei der Schwerpunkt auf Merkfähigkeit und Konzentration, Spracherwerb und generell den kognitiven Fähigkeiten liegt, aber auch die sozialen Kompetenzen eine beachtliche Rolle spielen. Dem stellt er gegenüber, wie sich diese Entwicklung verlangsamt oder Vorhandenes verloren geht, wenn digitale Medien in großem Umfang genutzt werden, wie das zurzeit in durchschnittlichen Familien der Fall ist. Ein eigenes Kapitel gehört dem Baby-TV und den Baby-Einstein-DVDs.
Auch auf durch die digitale Vernetzung erzeugten Stress, die Folgen von Schlafmangel (der bei vielen Jugendlichen aufgrund ihres Spielkonsums auftritt), physische Konsequenzen wie Übergewicht und auf Spiel- oder Internetsucht geht der Autor ein.
Das Buch endet mit dem Kapitel "Was tun?", das gerade Eltern Mut macht, sich mit dem herrschenden Trend kritisch auseinanderzusetzen und ihm zu widerstehen; diesem Kapitel geht eine Anklage gegen die Politik voraus, die sich nach Ansicht des Autors nicht um die Kinder schert, sondern vor allem den Lobbyisten nach dem Mund redet.
Ein Kritiker der digitalen Medien braucht Rückgrat – Spitzer hat es und zeigt es mit seinem Buch. Es mag sein, dass er hier und da übers Ziel hinausschießt, aber wer Kinder hat und diese und ihre Freunde genau beobachtet, wird nicht umhinkommen, die von Spitzer aufgezeigten Probleme zumindest tendenziell an ihnen wahrzunehmen; es sei denn, ihr Konsum ist von Anfang an streng und klar reglementiert worden.
Spitzer verwendet als Belege für seine Aussagen nicht nur allgemein anerkanntes Wissen um neurologische Zusammenhänge, Psychologie, Soziobiologie und weitere Gebiete, die sein Thema berühren, sondern vor allem auch Ergebnisse aus seriös durchgeführten Studien, die er detailliert beschreibt. Da es etliche Studien gibt, die scheinbar das Gegenteil beweisen, zeigt er auf, inwiefern deren Design unpassend und/oder die Auswertung irreführend ist. Dabei argumentiert er gut nachvollziehbar, sodass es zum Verständnis des Buchs keiner Vorkenntnisse auf den betreffenden Wissenschaftsgebieten oder im Bereich der Statistik bedarf. Eine Reihe von Grafiken veranschaulicht die Studiendesigns und die Resultate.
Diese Resultate wirken durchaus erschreckend und dürften gerade Eltern und berufliche Erzieher und Pädagogen sehr nachdenklich stimmen, sofern diese sich auf die Aussagen des Buchs einzulassen bereit sind. Vermutlich wird niemand die Konsequenz ziehen, alle elektronischen Medien aus dem Familienheim und den Schulen zu verbannen; zur kritischen Einschätzung des Konsums der Kinder und Jugendlichen, für die man verantwortlich ist, und gegebenenfalls zu Selektion und massiver Reduzierung regt Spitzers Werk definitiv an. Zu begrüßen wäre, wenn es auch zu einer überfälligen sachlichen Diskussion führen würde, in der wirtschaftliche Interessen außen vor bleiben. Während dies vermutlich nicht zu verwirklichen ist, hat jeder Erziehende die Möglichkeit, sich anhand dieses kritischen und sachlich fundierten Buchs mit der Gegenseite der sonst überall anzutreffenden Euphorie auseinanderzusetzen. Dass das Buch auch als eBook erhältlich ist, soll hier mit einem Augenzwinkern angemerkt werden.
Auf der Verlagsseite zum Buch finden Sie eine
Leseprobe.