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Der französische Politologe Jacques Sémelin untersucht den Massenmord als Mittel zur Eliminierung ganzer Bevölkerungsgruppen. Dem Autor geht es darum, einen theoretischen Bezugsrahmen zu entwickeln, anhand dessen sich die Dynamik genozidaler Prozesse verstehen und erklären lässt. Historisch-empirisch stützt seine Argumentation sich auf den Vergleich dreier Vorgänge: des Holocausts an den Juden, des Bosnienkriegs 1991-1995 und des Mordes an den ruandischen Tutsi im Jahre 1994.
Er arbeitet zunächst die allgemeinen Merkmale genozidaler Ideologien heraus, nämlich ihre Bezugnahme auf die Diskurse der "Identität", der auf die ausschließliche Identifikation mit der jeweils eigenen Gruppe abzielt und Andersdenkende zu Verrätern stempelt, der "Reinheit", die durch Angehörige von Fremdgruppen gleichsam beschmutzt werde, und der "Sicherheit" ("wir oder sie").
Der Autor analysiert anhand der genannten Beispiele, wie vor dem Hintergrund wirtschaftlicher und politischer Krisen interessierte Machtgruppen diese Diskurse gesellschaftlich durchsetzen und auf bestimmte Opfergruppen hinlenken. Er zeigt, dass dabei selten eine direkte Linie von der Absicht zur Tat führt, dass es vielmehr auf das ankommt, was er die "Struktur politischer Gelegenheiten" nennt; in diesem Zusammenhang identifiziert er eine Reihe von Faktoren, die in ihrem Zusammenwirken den im Massenmord gipfelnden Prozess beschleunigen, hemmen oder stoppen können, wie zum Beispiel die Interventionsbereitschaft oder Indifferenz ausländischer Mächte, historisch eingeübte beziehungsweise erfahrene Massengewalt, das Vorliegen einer Kriegssituation und vieles mehr.
Zum Schluss deutet er Wege an, wie die Sozialwissenschaften dazu beitragen können, Massenmorde in Zukunft zu verhindern, wobei er davor warnt, allzu optimistische Erwartungen an die politische Wirkung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis zu knüpfen.
Sémelin hat eine eindrucksvolle Analyse vorgelegt, die auf eine für den Leser wohltuende Art die Balance zwischen empirischer Detailgenauigkeit und theoretischer Abstraktion wahrt, in verständlicher Sprache geschrieben (und kompetent übersetzt) ist und durch eine Reihe von originellen Beobachtungen glänzt - so zum Beispiel, wenn er die Wechselwirkungen zwischen dem betrachteten Land (Ruanda, Serbien, Deutschland) und seinem jeweiligen feindlichen Zwilling (Burundi, Kroatien, Sowjetunion) analysiert.
Am überzeugendsten ist sein Buch, wo es die Gemeinsamkeiten in der logischen Struktur genozidaler Ideologien herausarbeitet. In der Tat dürfte es für den praktischen politischen Zweck der Prävention hilfreich sein, den Ideologietypus identifizieren zu können, dessen gesellschaftliches Vorherrschen einen Hinweis auf bevorstehende Massengewalt liefert.
Diese Stärke resultiert aus dem vergleichenden Ansatz, drei konkrete Massenmorde zu analysieren, die in ganz verschiedenen sozialen und politischen Kontexten stattfanden: des modernen Antisemitismus, der Nationalstaatsbildung in Europa und der postkolonialen Situation.
Einige Schwächen nimmt der Autor dabei vermutlich sehenden Auges in Kauf: Sein Ansatz vermag das "Wie" des Massenmordes aufzuklären, nicht so sehr das "Warum" - letzteres wäre eher ein Thema für Spezialstudien. So sehr er auf der Komplexität der Zusammenhänge insistiert, so sehr drängt sich dem Leser doch die Vorstellung einer einseitigen und vor allem eindeutigen Täter-Opfer-Beziehung und der Dominanz rein ideologischer Faktoren auf - die Konfliktursachen werden stets in den Köpfen der Täter lokalisiert. Eine Perspektive, die im Hinblick auf den Holocaust zweifellos angemessen, im Hinblick auf den Bosnienkrieg immerhin diskutabel, in Bezug auf Ruanda aber höchst fragwürdig ist, wenn man etwa die Arbeiten von Gunnar Heinsohn ("Söhne und Weltmacht") oder Jared Diamond ("Kollaps") vergleichshalber heranzieht.
Diese Kritikpunkte sollen freilich lediglich verdeutlichen, welche Fragen man bei Sémelin beantwortet bekommt und welche nicht. Die Bedeutung dieses empfehlenswerten Werkes schmälern sie nicht.