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Nicht-fiktionales Erzählen
Interview mit Dr. Christian Klein
Dr. Christian Klein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal. Im Juli 2009 erschien das von ihm und Prof. Dr. Matías Martínez herausgegeben Buch Wirklichkeitserzählungen.
Die einzelnen Aufsätze thematisieren die Funktion von Erzählungen in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen. Herr Dr. Klein steuerte einen Aufsatz über moralische Erzählungen am Beispiel klassischer und moderner Sittlichkeitsratgeber bei.


Das 20. Jahrhundert wird oft als das Jahrhundert gebrandmarkt, in dem die Kunst der Erzählung verfällt und verschwindet, so zum Beispiel bei Walter Benjamin oder bei Hans Aebli. Andererseits aber ist nie zuvor so intensiv die Erzählung erforscht worden. Gerade in den letzten dreißig Jahren sind zahlreiche interdisziplinäre Forschungseinrichtungen zur Narratologie (Erzählforschung) gegründet worden.
Wie sind Sie zur Wissenschaft der Erzählung gekommen? Was motiviert Sie sich mit diesem Forschungsgebiet zu beschäftigen?

Als ich im Rahmen meiner Promotion eine Biographie geschrieben habe, beschäftigte mich auch die Frage, was das Besondere biographischen Erzählens ist. Denn Biographien kommt ja ein anderer Status als fiktional-literarischen Texten zu, weil man sie als Erzählungen rezipiert, die mit dem Geltungsanspruch auftreten, ›Wahres‹ zu berichten, sich unmittelbar auf Wirklichkeit zu beziehen. Von dort ist es dann nur noch ein kleiner Schritt gewesen, sich mit »Wirklichkeitserzählungen« an sich zu beschäftigen. Ich finde es spannend, mich mit solchen Textformen auseinanderzusetzen, die wir alle ständig produzieren und selbstverständlich rezipieren, denen bislang aber nur am Rande Aufmerksamkeit geschenkt wurde – auch wissenschaftlich.

Den Begriff Erzählung gebraucht man im Alltag für sehr verschiedene Erscheinungen. Wie definiert die Wissenschaft eine Erzählung?
Kurzgefasst werden Erzählungen in der Regel bestimmt als sprachliche beziehungsweise sprachlich gestaltete Darstellungen sinnhafter Ereigniszusammenhänge. In Erzählungen verknüpfen und ordnen wir einzelne Ereignisse zu Geschichten.

Immer wieder wird beklagt, dass die Erzählforschung noch in den Kinderschuhen stecke. Zeichnen sich trotzdem Tendenzen ab, worüber die Erzählforschung Aufklärung geben kann?
Erzählen gilt heute als anthropologische Universalie – alle Menschen zu allen Zeiten in allen Kulturen erzähl(t)en. Die Narratologie fokussiert ja beileibe nicht allein das Erzählen in schriftlichen Texten oder gar nur literarisches Erzählen, sondern praktisch alle Formen und Erscheinungsweisen – schriftlich wie mündlich, aber auch in audio-visuellen Medien (wie etwa dem Film). So breit wie die Erscheinungsformen des Erzählens, so vielfältig sind auch die narratologischen Zugriffe: Man kann bestimmte Typen von Erzählungen untersuchen, Erzählen in bestimmten Medien, Kulturen oder in bestimmten Epochen – das dann natürlich jeweils auch vergleichend, etwa um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu bestimmen. Klar ist jedenfalls, dass Erzählen die genuin menschliche Form der Vermittlung von Vorstellungen und Erfahrungen, Fakten und Wissen ist.

Was wäre der praktische Nutzen der Erzählforschung?
Erzählen ist eine der bedeutendsten Formen der symbolischen Interaktion des Menschen. Indem man ganz konkret die Gemachtheit von Erzählungen untersucht, erfährt man etwas darüber, wie unser Verständnis von Welt zustande kommt. Indem wir uns mit verschiedenen Erscheinungsweisen des Erzählens befassen, tragen wir wesentlich zum Verständnis anderer Kulturen oder Epochen bei.

Wenn man das von Prof. Martínez und Ihnen herausgegebene Buch "Wirklichkeitserzählungen" durchblättert, bekommt man den Eindruck, dass sich die Erzählung überall einmischt, sei es im Alltag, sei es in der Wirtschaft, in der Politik oder im Rechtswesen. Gibt es hier - durch die Erzählung - eine tiefergehende Gemeinsamkeit, die für alle diese Bereiche gilt?
Ihr Eindruck, dass sich sie die Erzählung überall einmischt, unterstreicht ja noch einmal die Allgegenwärtigkeit des Erzählens in der menschlichen Kultur. Ganz offensichtlich eint die von uns berücksichtigten gesellschaftlichen Bereiche (Politik, Jurisprudenz, Moral etc.), dass sie ganz wesentlich auf das Verstehen menschlicher Interaktion und das Verständlichmachen von Information ausgerichtet sind.

Sie selbst haben einen Aufsatz zum Erzählen im moralisch-ethischen Diskurs zu diesem Buch beigesteuert. Sie zitieren Norbert Meuter mit dem Satz "Wir sind moralisch, weil [w]ir […] Geschichten erzählen (müssen)." Von hier aus schlagen Sie dann eine Brücke zu Niklas Luhmann. Dieser geht davon aus, dass Moral nach der Opposition Achtung/Missachtung codiert ist. Über diese Codierung würden Zugehörigkeiten zu Gruppen beziehungsweise zur Gesellschaft reguliert. Kann man davon ausgehen, dass Erzählungen Gruppenzugehörigkeiten maßgeblich beeinflussen?
Ja, Erzählungen tragen ganz wesentlich zu unserem Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe bei. Nicht von ungefähr bemühen sich etwa neu aufkommende ideologische oder politische Bewegungen darum, möglichst schnell eine identitätsstützende Erzählung ihrer eigenen Entwicklung in Umlauf zu bringen. Aber auch im privaten Bereich festigen wir über das wiederholte Erzählen bestimmter Geschichten unsere Gruppenzugehörigkeit. Woraus besteht denn zum Beispiel ein Großteil der Gespräche bei Familienfeiern oder Klassentreffen? Aus dem Wieder-Erzählen vergangener gemeinsamer Erlebnisse. Indem wir diese Ereignisse wiedergeben, versichern wir uns der Gruppenzugehörigkeit. Die Frage tendiert ja schon in Richtung Gedächtnisforschung, in der durchaus die Meinung vertreten wird, dass wir ohnehin nur erinnern, wovon wir erzählen können. Zugespitzt: Wir sind die Summe der Erzählungen, die über uns in der Welt sind und die wir über uns erzählen können. Insofern wäre das Erzählen(-Können) die Voraussetzung für persönliche wie kollektive Identität.

In der aktuellen Diskussion um sogenannte School-Shooter, wie in Winnenden oder Ansbach, wird immer wieder betont, dass diese Jugendlichen Einzelgänger seien. Man kann dabei ja vermuten, dass diese Jugendlichen besonders wenig erzählt bekommen und besonders wenig (von sich) erzählen können.
1.) Wie stellt sich für Sie der Zusammenhang von sozialer Isolation, Moral und Erzählung dar? Sehen Sie eine Verbindung zwischen Erzählung und Gewalt?

Da muss ich ein bisschen ausholen: Moral bildet – flapsig gesagt – den Kitt der Gesellschaft. Moral hält nach Luhmann Bedingungen hoch, die unabhängig von bestimmten Spezialfähigkeiten gelten und den Menschen als Mitglied der Gesellschaft an sich betreffen. Moral markiert in dieser Perspektive eine auf Symmetrie angelegte wechselseitige Achtung der Kommunikationsteilnehmer und trifft immer die Person als ganze. Man ist nicht Teil der Gesellschaft, weil man etwas kann, sondern weil man (zumindest potentiell) Kommunikationspartner ist. Wenn jemand nun (aus welchen Gründen auch immer) das Gefühl hat, mit ihm würde nur asymmetrisch, also von oben nach unten kommuniziert, er wäre kein gleichberechtigter Kommunikationspartner, fühlt er sich auch nicht mehr an die Maßstäbe, die Moral, der alle anderen folgen, gebunden und zeigt ihnen auf maximal eindringliche Weise, was er glaubt, was alle anderen ihm ständig entgegenbringen: Verachtung. Und immer dann, wenn Gewaltexzesse durch die Medien geistern, zeigt sich auch, dass Moral letztlich nur dann funktioniert, wenn sich alle daran halten – denn weder die Verachtung, die den Tätern entgegenschlägt, noch die juristischen Sanktionen halten künftige Täter von Nachahmungstaten ab. Und es ist ja auch nicht die Tatsache, dass jemand jemanden massakriert, nicht die einzelne Tat, die uns allein so erschüttert und verunsichert. Beunruhigend ist, dass uns in solchen Momenten klar wird, dass es bestimmte Menschen gibt, die sich offensichtlich außerhalb unserer gesellschaftlichen Spielregeln bewegen und damit unser Gesellschaftskonzept an sich in Frage stellen, dessen Fragilität vor Augen führen. Wenn die Medien anschließend (ungeachtet der Sensationsgier) ausführlich darüber berichten, den Tathergang immer und immer wieder erzählen und sich auch die Menschen auf der Straße darüber unterhalten, versuchen sie, das Geschehen narrativ zu bewältigen und die Geltung der gesellschaftlichen Normen (wenigstens) narrativ durchzusetzen beziehungsweise zu unterstreichen.

2.) Ihr Bielefelder Kollege Wilhelm Heitmeyer äußerte gegenüber Spiegel-Online, die Schulen müssten "eine neue Anerkennungskultur entwickeln". Haben Sie an die aktuelle Diskussion über School-Shooter aus Sicht der Erzählforschung Wünsche und Vorschläge?
Das ist ein sehr komplexes Phänomen, und da ich weder Sozialpsychologe bin, noch mich näher damit befasst habe, hielte ich es für anmaßend, Vorschläge zu unterbreiten oder Wünsche anzumelden.

Ihr Aufsatz behandelt exemplarisch Sittlichkeits-Ratgeber, dessen berühmtes Vorbild 'der Knigge' ist. Man hätte sich leicht andere Themen vorstellen können, zum Beispiel 'Gefährdungserzählungen', wie sie Johannes Stehr in seinem Buch "Sagenhafter Alltag" untersucht.
Was hat Sie zu dieser Genre-Auswahl bewogen?

Ich habe in meinem Aufsatz ja darauf hingewiesen, dass es eine unglaubliche Fülle an Arbeiten gibt, die sich aus den verschiedensten Blickwinkeln des Zusammenhangs von Moral und Erzählen annehmen. Die Erzählungen, die Stehr in seinem Buch analysiert, so genannte ›Sagen des Alltags‹ oder auch ›Urban Legends‹, also sagenhafte mündlich weitergetragene Erzählungen, die dem Freund eines Freundes zugestoßen seien (wie die Spinne in der Yucca-Palme), wurden schon mehrfach aus moralsoziologischer oder narratologischer Sicht untersucht. Und wenn ›Sagen des Alltags‹, so ja auch Stehrs These, zur Vermittlung und Aneignung von Moral in der Peer Group beitragen – von gleich zu gleich sozusagen –, argumentieren die Sittlichkeitsratgeber immer von einem übergeordneten Standpunkt aus: Der Autor hat bestimmte Kenntnisse und der Leser will daran partizipieren. Ich finde es interessant zu analysieren, welche narrativen Strategien dazu führen, dass Menschen immerhin ihr künftiges Handeln (zumindest partiell) an diesen Sittlichkeitsratgebern ausrichten wollen – und bis dato ist das (meines Wissens) noch nicht gemacht worden. Nur ein Beispiel: Während in Urban Legends die persönliche Nähe zum Ursprung der Erzählung als Beglaubigungsstrategie dient (das sei eben dem Freund eines Freundes zugestoßen), ist es in Sittlichkeitsratgebern die (Lebens-)Erfahung, besondere Kompetenz oder der Blick von außen, der die Ratgeberfunktion des Autors legitimiert.

Gab es einen Sittlichkeits-Ratgeber, der Sie besonders beeindruckt hat?
Ich finde ›den Knigge‹ schon beeindruckend, denn er ist weniger eine Art ›Benimm-Fibel‹, als die er heute gemeinhin gilt, als vielmehr eine Art soziologischer Detailstudie – was sich letztlich auch schon im Originaltitel andeutet: »Über den Umgang mit Menschen«. Dabei beschreitet Knigge einen Weg, den so konsequent erst wieder Norbert Elias mit dem »Prozess der Zivilisation« oder Pierre Bourdieu mit »Die feinen Unterschieden« wählen. Nämlich klären zu wollen, was das eigentlich ist, was wir ›Gesellschaft‹ oder auch ›gute Gesellschaft‹ nennen, indem man den ganz konkreten Umgang der Menschen miteinander in den Blick nimmt.

Wenn Sie einen Sittlichkeits-Ratgeber schreiben müssten, welche Themen würden Sie besonders in den Vordergrund stellen?
Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Handeln. Es scheint mir eine recht neue Entwicklung zu sein, dass sich die Menschen im öffentlichen Raum benehmen wie im privaten, dass immer häufiger private Details freiwillig öffentlich gemacht werden. Ein Sittlichkeitsbuch im kniggeschen Sinne würde klären, was uns das über den Zustand unserer Gesellschaft sagt.

Anstand, Tugend, Moral, Sittlichkeit - das kennt jeder Mensch und die meisten denken hin und wieder darüber nach. Haben Sie für unsere Leser Empfehlungen, wie man diese - aus Sicht der Erzählforschung - besonders "gut" bedenken und reflektieren kann?
Die Antwort dürfte Sie jetzt kaum überraschen: Indem man erzählt. Denn indem man anderen etwa vom letzten Kinoerlebnis und den lauten Sitznachbarn erzählt, nimmt man schon eine eher distanzierte Haltung ein und macht gleichzeitig klar, welche Regeln einem wichtig sind. Der Zuhörer wird sich dazu verhalten und schon tauscht man sich über moralische Grundsätze aus.

Ihr nächstes Buch betreuen Sie wieder als Herausgeber, das "Handbuch Biographie".
1.) Welche Leser wünschen Sie sich für dieses Buch?

All diejenigen, die sich mit biographischem Erzählen aus wissenschaftlicher Perspektive beschäftigen (sowohl Studenten wie Kollegen), aber auch diejenigen, die selbst in der biographischen Praxis aktiv sind.

2.) Welches Thema der Biographieforschung ist für Sie - im Moment - das spannendste, interessanteste?
Da gibt es etliche, aber aktuell finde ich, dass man mal en detail narratologisch untersuchen sollte, wie aus einem Berg von Hinterlassenschaften eine kohärente biographische Erzählung wird, wie aus einzelnen Handlungselementen, die der Biograph auswählt und zusammensetzt, eine überzeugende und spannende Lebensgeschichte entsteht. Auch den Einsatz sprachlicher Stilmittel in Biographien müsste man mal genauer unter die Lupe nehmen.

Haben Sie eine Lieblingsbiographie?
Nein. Aber auch wenn ich der Letzte bin, der die Bedeutung theoretischer Reflexion für biographisches Schreiben unterschlagen würde, bin ich doch nach wie vor der Meinung, dass Biographen nicht nur Fakten sammeln, sondern Geschichten erzählen sollen. Einige Biographen können das besser, andere weniger gut. Doch die gern aufgestellte Behauptung, theoretischer Anspruch und gute Erzählung schlössen sich in Biographien aus, ist für mich eher eine Entschuldigung für (wahlweise) Denkfaulheit oder mangelndes Erzählvermögen, als dass sie ein sachlich begründetes Problem beschreiben würde.

Zu welchem Thema werden Sie in nächster Zeit arbeiten?
Ich werde mich mit ›Kultbüchern‹ als literarischem Phänomen beschäftigen.

Vielen Dank für das Gespräch.
Geführt von Frederik Weitz am 25.09.2009