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"Akzelerismus" nannte Musils "Mann ohne Eigenschaften" ein Phänomen unserer Zeit, eine regelrechte Sucht nach Beschleunigung, in der "Muße" negativ konnotiert ist, da der Grad der Füllung des Terminkalenders anscheinend mit dem Erfolg korreliert.
In fast dreißig kurzen Erzählungen befasst sich der Schweizer Autor Christian Haller mit dieser Beschleunigung. Gleich eingangs schildert er einen Versuch, sich mit einem Freund zu verabreden, der dazu durchaus willens ist und freudig meldet, im übernächsten Monat habe er an einem Dienstag noch zwei Stunden zu erübrigen. Oder er benutzt die Schmetterlingssammlung des Schriftstellers Vladimir Nabokov als Aufhänger für eine Betrachtung, in der er zu dem Schluss kommt, die heutige Gesellschaft gleiche viel eher einer nur auf Fressen und Sichaufblähen bedachten Raupe als einem bunten, gemusterten Schmetterling. Eine besonders starke Geschichte untersucht den Begriff "(sich) unterhalten", und hier dient als Ansatzpunkt eine Tasse Tee. In einer anderen entdeckt der Ich-Erzähler, auf dem Weg zur Wahrnehmung eines Termins, einen Quittenbaum, dieser weckt Erinnerungen, der Ich-Erzähler hält an, fällt gewissermaßen aus der beschleunigten Zeit – und findet, zu spät eintreffend, in einem "Stau auf der Autobahn" eine allseits akzeptierte Ausrede.
Wie in prächtigen Farben gemusterte Schmetterlinge, sorgfältig mit Nadeln nebeneinander angeordnet, präsentieren sich die Kurzerzählungen von Christian Haller. Ruhig wirken sie, tiefsinnig, aber niemals langweilig oder schwerfällig; ein Schuss Ironie, messerscharfe Logik, ein eleganter, leichter Stil, ein nur scheinbares Mäandrieren um den stets ersichtlichen roten Faden verleihen ihnen Spannung und Würze.
Eine "Causerie", eine Plauderei sei aus seiner Geschichte geworden, meint der Autor am Schluss der titelgebenden Erzählung, "etwas, das keinen Zweck verfolgt, nur ein wenig Farbe, ein wenig Form sein will und so altmodisch ist wie Schmetterlinge fangen". Nun, darin steckt wohl ein wenig Koketterie, ganz ohne tiefer gehenden Zweck ist keine der Geschichten. Die klaren Botschaften sind offensichtlich, werden jedoch nicht belehrend vorgetragen, und Christian Haller zwingt seine Erkenntnisse dem Leser keineswegs auf. Annehmen werden die meisten Leser sie dennoch, denn Haller verwendet die Stecknadeln des Herrn Nabokov nicht nur zum Fixieren und Ordnen von Gedanken, sondern piekt sozusagen in mehr oder weniger offen liegende Wunden der heutigen Gesellschaft.
Dabei wählt er, wie schon angeschnitten, sehr unterschiedliche Aufhänger. Ob er einen rumänischen Freund beschreibt, der sich mit charmanten Mogeleien ein wenig bereichert, und dann zu den Verantwortlichen der Finanzkrise überleitet, oder den Terror der "Knöpfe" in Computerprogrammen schildert – hat man etwa bei einer Programminstallation einmal einen falschen gedrückt, scheinen sie sich alle gegen einen zu verbünden – und die Erfahrungen mit der Helpline; der Leser, zumindest jener ab einem gewissen Alter, erkennt sich selbst und seine Welt in den Geschichten wieder, reflektiert und zieht womöglich Schlüsse für sein Leben.
Leise wie der Flug eines Schmetterlings sind diese Geschichten, aber sagt man nicht, ein solcher Flügelschlag könne einen Orkan auslösen?
Starke, sehr empfehlenswerte Lektüre!