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Dirk Bernemanns Abschlussband der "Ich hab die Unschuld kotzen sehen"-Trilogie konfrontiert den Leser abermals mit den alltäglichen Abgründen unserer Gesellschaft: vom sonderbaren Balzverhalten paarungswilliger Großstadtzombies über die läuternden Tagträume eines egoistischen Drogendealers bis hin zum tristen, mitleiderregenden Überlebenskampf einer alternden Bettlerin, die sich mit dem Sammeln von Pfandflaschen über Wasser hält.
Der letzte Fluchtweg eines verzweifelten und überforderten jungen Paares ist der Ausflug ihres schreienden Kindes über die Brüstung eines Balkons. Falsches Mitleid, zur falschen Zeit mit den falschen Menschen, kostet oft mehr als nur die Würde. Das Schicksal einer deutschen Soldatin in Afghanistan und die Tragik der Normalen sind ebenso Bestandteil des Buches wie die fatalistischen Ansichten einer Kommode.
Dirk Bernemann schafft es auch im dritten Band seiner Unschulds-Trilogie den Leser von Beginn an zu fesseln. Seine kurzen, aber prägnanten und treffsicheren Anekdoten sind (fast) immer wie aus dem Leben gegriffen. Wer die ersten beiden Bände von Dirk Bernemann kennt, weiß was ihn auf den kommenden 200 Seiten erwartet, nämlich sozialkritische Verbalakrobatik auf hohem Niveau. Sowohl in Sprache und Form als auch in seinen Plots vermag der Autor bereits mit wenigen Worten das Interesse des Lesers zu wecken und wach zu halten. Dass der letzte Band der Trilogie dennoch hinter den ersten beiden Büchern zurückbleibt, hat einen einfachen Grund, denn wirklich viel Neues weiß Bernemann nicht zu erzählen. Wieder geht es um gescheiterte Existenzen und rücksichtslose Individualisten, die doch nichts anderes sind als Produkte der von uns gelebten Gesellschaft.
Wirklich innovativ sind dagegen die Betrachtungen aus der Sicht einer Kommode oder die Fernsehdokumentation aus der fiktiven Reihe "Große, böse Schicksale", in der die Reporterin einen Mann interviewt, der an seiner absoluten Normalität leidet. Dies ist wohl die eindringlichste Geschichte, die am besten den emotionalen Zustand des Großteils der Bevölkerung widerspiegelt. Die pseudointellektuellen Gedankenspiele eines jungen Mannes, der über die tiefere Bedeutung seiner Freundschaft zu seinem besten Kumpel philosophiert, wirken dagegen im Kontext deplatziert und uninteressant. Nichtsdestotrotz ist das vorliegende Buch absolut lesenswert und genau die richtige Lektüre für alle, die gerne hinterfragen und sich über die Texte hinaus mit dem Geschriebenen auseinandersetzen wollen. Und das Schöne daran ist, dass man die ersten beiden Bücher gar nicht kennen muss, um an diesem Werk seine Freude zu haben.
Ist das Püppchen auf dem Umschlag des ersten Bandes noch intakt und hübsch, so hat es auf dem Cover des vorliegenden Buches bereits reichlich gelitten. Die Unschuld hat Wunden davongetragen, die nicht mehr heilen werden. Der Satzspiegel ist sehr lese- und augenfreundlich und auch beim Lektorat bleiben keine Wünsche offen.
Fazit:
Nicht ganz so treffend, wie die ersten beiden Bände, aber immer noch ein geistiger Hochgenuss für alle, die gerne hinter die Fassade der Normalität schauen.