Gesamt |
|
Anspruch | |
Aufmachung | |
Bildqualität | |
Preis - Leistungs - Verhältnis | |
Die parlamentarischen Demokratien der Gegenwart müssen sich immer öfter mit Bewegungen und Protesten auseinandersetzen, die mit ihren Forderungen nach mehr Beteiligung, mehr Transparenz und mehr Offenheit gerade in Frage stellen, dass es sich um "wahre Demokratien" handelt. Wie demokratisch ist der moderne westliche Staat tatsächlich? Vielleicht schließen sich Staat und Demokratie sogar aus?
Diesen radikalen Ansatz hat Miguel Abensour, ein emeritierter Professor für Philosophie, der in Paris gelehrt hat, vor einigen Jahren stark gemacht. Das Buch dazu liegt nun in deutscher Sprache vor: "Demokratie gegen den Staat". Bereits der Untertitel des Werkes verrät einiges über die Gedankenschulen, die Abensour zu dieser Idee geführt haben: "Marx und das machiavellische Moment". Allerdings muss hinzugefügt werden, dass es sich hier nicht um einen marxistischen Ansatz handelt; Abensour beschäftigt vielmehr die Konzeption des Politischen bei dem frühen Marx, also vor der Krise des Jahres 1843, vor seiner Hinwendung zum Ökonomischen. Er glaubt hier bei Marx einen "machiavellischen Moment" entdeckt zu haben in dem Sinne, dass Marx dem Politischen einen eigenständigen Ort im gesellschaftlichen Leben zugesteht, also es sich um einen Bereich des menschlichen Lebens handelt, der nicht von anderen Bereichen abhängig ist, beispielsweise vom Theologischen oder, wie im Marxismus oft geschehen, dem Ökonomischen unterworfen ist.
Auf knapp 270 Seiten umreißt Abensour seine Interpretation des frühen Marx und entwirft dabei ein Konzept der "rebellierenden" Demokratie, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie gegen den Staat gerichtet ist. Denn der Staat mit seiner Begrenzung und Einengung kann Demokratie nur insofern zulassen, als sie ihn nicht selbst in Frage stellt. So ist es bezeichnend, dass nach Revolutionen immer zwei Tendenzen gegeneinander stehen: eine nach mehr Demokratie, mehr Freiheit und weniger bürokratischen Strukturen, das heißt die rebellierende Demokratie, und eine zweite nach staatlicher Ordnung und Bürokratisierung.
In zwei Vorworten, die eigenständige Aufsätze darstellen, reißt Abensour sein Vorhaben bereits an, führt den Begriff der "rebellierenden" Demokratie ein. In einer Einleitung, sechs Kapiteln und einem Schluss entwickelt der Autor sein Konzept. Er beginnt damit, den vernünftigen Staat als Utopie zu entlarven, gibt einen Überblick von der Krise des Jahres 1843 und ihre Bedeutung für den jungen Karl Marx und endet schließlich mit einem Überblick über die Charakteristika "wahrer Demokratie", wie Marx sie sich gedacht habe. In einem Nachtrag stellt Abensour das Konzept der "wilden Demokratie" dem "Prinzip der Anarchie" gegenüber.
Miguel Abensours "Demokratie gegen den Staat" ist zweierlei. Zum einen stellt das Buch eine Neuinterpretation des jungen Marx und seiner politischen Philosophie dar, die im Schatten des späten Marx und nicht zuletzt des Ökonomie-lastigen Marxismus oft in den Hintergrund geriet. Zum anderen entwickelt Abensour eine eigene radikale Demokratie-Konzeption. Interessant dabei ist, dass, obwohl das Buch bereits 2004 in Frankreich erschien, viele der Bewegungen und Proteste der letzten Jahre sein Modell bestätigen zu scheinen: Demokratie, wenn sie im frühmarxschen Sinne "wahre Demokratie" sein will, muss gegen den Staat rebellieren. Auch wenn die modernen westlichen Staaten sich demokratisch nennen und damit legitimieren, muss doch die Demokratie immer wieder gegen sie erkämpft werden.
Das Buch ist also sowohl für Marx-Interessierte als auch allgemein für politische Philosophen interessant. Es ist ein hochaktueller Versuch, eine radikal demokratische, aber auch radikal aktuelle Konzeption des Politischen zu entwerfen, die sicher sowohl für die wieder auflebende Marx-Rezeption als auch für die gegenwärtigen Herausforderungen für Demokratie und Emanzipation sehr gewinnbringend ist. Dabei glaubt der Autor nicht, ein umfassendes Modell gefunden zu haben, das alle Fragen beantwortet, vielmehr geht es darum, neue Debatten anzuregen.
Das Thema ist also im doppelten Sinne spannend, leider merkt der Leser dem Buch aber die Schwere eines ganzen Philosophenlebens an. Stellenweise ist es sehr schwere Kost, in der Begriffe und Namen ohne jede Rücksicht aneinandergereiht werden. Auch ein Student der Philosophie dürfte das eine oder andere nachschlagen müssen. Nach der Lektüre stellt sich schon die Frage, ob dieses interessante und aktuelle Thema nicht auch in einer weniger schwer verdaulichen Sprache hätte transportiert werden können. In dieser Form ist der Text nur Lesern mit einigem Vorwissen der politischen und marxschen Philosophie zu empfehlen, diesen aber mit Nachdruck!
Eine Leseprobe gibt es auf der Verlagswebsite.